Seite 2: Die Zone der Erinnerung - Zeugen der Zeitgeschichte

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Vereinfachte Darstellung von Realitäten

Den Enthusiasmus der Entwickler teilen aber nicht alle. Skeptischer gibt sich etwa der Filmregisseur Alain de Halleux, der anlässlich des 25. Jahrestags herausfinden wollte, wie die Generation der um 1986 in der Ukraine Geborenen mit der Katastrophe umgeht.

Die Bilanz, die er in seinem Dokumentarfilm Chernobyl 4 Ever zieht, ist ernüchternd: Die meisten jungen Menschen erfahren weder von den Eltern noch in der Schule viel über Tschernobyl, und sie wollen angeblich auch nicht mehr wissen. Zwar findet de Halleux eine Gruppe von politisch aktiven Jugendlichen, die diesen Zustand beklagen – und beteuern, dass die Stalker-Spiele ihren Wissensdurst geweckt hätten. Doch der Regisseur tut sich schwer damit: Für ihn bieten die Spiele lediglich »virtuelle Bilder«, die eher den Verfall der Erinnerung bezeugen, als sie zu stützen. Das Computerspiel und das Gedächtnis? Für den Belgier gehen diese Dinge nicht zusammen.

Und damit ist er keineswegs allein. Auch in der Forschung wird die Frage, ob das Computerspiel Geschichte sinnvoll vermitteln kann, heftig diskutiert. Die Gegner der Idee fragen sich etwa, ob man die komplexen Zusammenhänge und Informationen, die Geschichte ausmachen, in einem Spiel nicht immer nur grob vereinfacht darstellen kann. Oder sie erklären die digitale Natur der Spiel-Bilder zum Problem. Der Medienphilosoph Dieter Mersch etwa meint, dass die Grafik des Computerspiels immer nur mathematisch erschaffen sein kann. Im Gegensatz zur Fotografie oder zum Film seien Spielebilder damit nicht Beweis für etwas, das real existiert und beim Betrachten des Bildes lediglich abwesend ist. Sie sind, wie Mersch schreibt, keine »Gedächtnisbilder«.

Computerspiele als Abbild der Geschichte

Freilich findet sich in der Forschung immer auch Kritik an der Kritik: Die Game-Designerin und -Forscherin Tracy Fullerton gibt zu bedenken, dass die Vorstellung, der Film und die Fotografie bildeten Ereignisse ab, wie sie wirklich waren, nicht zwingend richtig sei. Der »gesunde Menschenverstand« scheint dies zwar zu beweisen – aber der dachte einst auch, dass Gemälde oder Skulpturen als Zeugen der Geschichte unproblematisch seien, obwohl sie ebenfalls nur von Menschenhand gemacht sind. Genauso ist es für Fullerton vorstellbar, dass digitale Simulationen wie Computerspiele eines Tages als Abbildungen der Geschichte akzeptiert werden. Doch bereits in der Gegenwart beweisen die Jugendlichen aus Chernobyl 4 Ever, dass man über ein Spiel Zugang zur Geschichte finden kann.

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Die Frage muss also weniger lauten, ob das Computerspiel zum »Gedächtnismedium« taugt, sondern eher, unter welchen Bedingungen es diese Rolle erfüllen kann – und mit welchen Mitteln die Entwickler ein Spiel zum »Geschichts-Abbild« machen können. Mit Vorsicht und Respekt, lautet die Antwort im Falle von GSC Game World, das sich durchaus heftiger Kritik an der Idee eines »Tschernobyl-Spiels« ausgesetzt sah. »Wir haben zwar auch viel Unterstützung bekommen. Aber die Unkenrufe blieben nicht aus. An jedem Jahrestag berichten die TV-Sender über die Katastrophe. Und eine Zeit lang gehörte dazu der Vorwurf, wir würden daraus Profit schlagen«, sagt Yavorski.

Anton Bolshakov kommentiert trocken: »Skandale verkaufen sich halt gut.« Aber er räumt auch ein, dass der Vorwurf einen wahren Kern hat: »Am Anfang des Projekts stand tatsächlich nur der Wunsch, ein unterhaltsames Spiel zu machen. Die Philosophie und die Botschaft kamen erst später.« Was die Entwickler jedoch nicht aus der Sorgfaltspflicht entließ. »Tschernobyl ist ein Teil unserer Geschichte. Wir sind mit dem Unfall aufgewachsen, das Thema geht uns nahe. Es wäre uns nie eingefallen, es ohne den nötigen Respekt zu behandeln.«

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