Seite 3: US-Urteil über Videospiele - Schwarzenegger gegen die Spielebranche

GameStar Plus Logo
Weiter mit GameStar Plus

Wenn dir gute Spiele wichtig sind.

Besondere Reportagen, Analysen und Hintergründe für Rollenspiel-Helden, Hobbygeneräle und Singleplayer-Fans – von Experten, die wissen, was gespielt wird. Deine Vorteile:

Alle Artikel, Videos & Podcasts von GameStar
Frei von Banner- und Video-Werbung
Einfach online kündbar

Der erste Verfassungszusatz

Dass der Supreme Court sein Augenmerk auf Videospiele richtet, hat besondere Bedeutung. Denn verhandelt wird anhand des Kalifornien-Falls die Grundsatzfrage, ob Gewaltdarstellung in Medien eine Form von kreativem Ausdruck ist – und somit rechtlich geschützt.

Das Gebäude des US Supreme Courts in Washington DC. (Bild: Wikipedia). Das Gebäude des US Supreme Courts in Washington DC. (Bild: Wikipedia).

Im Mittelpunkt steht der erste Verfassungszusatz, das First Amendment, eine der heiligen Säulen des amerikanischen Selbstverständnisses. »Der Kongress darf kein Gesetz erlassen, das die Religions-, Rede oder Pressefreiheit einschränkt«, schrieben die Abgeordneten 1789 als ersten Artikel in die »Bill of Rights«. Der Satz garantiert die freie Entfaltung der Persönlichkeit, er untermauert das sehr amerikanische Streben nach Unabhängigkeit und individueller Freiheit.

Viele Amerikaner sehen es als wichtigste Aufgabe des Supreme Courts, den ersten Verfassungszusatz gegen Einschränkungen zu verteidigen. Tatsächlich legt der oberste Gerichtshof den Artikel traditionell streng aus; zuletzt löste er im April 2010 ein Bundesgesetz auf, das die Darstellung von Tiermisshandlungen verbot. Begründung: Das Gesetz sei zu breit gefasst. Die Richter sahen keinen dringenden Grund, die Ausdrucksfreiheit einzuschränken.

Die steht nun mit dem kalifornischen Gesetz AB 1179 erneut auf dem Prüfstand, diesmal im Medium Computerspiele. Allein die Tatsache, dass die Angelegenheit überhaupt beim Supreme Court liegt, ist schon bedeutsam -- von rund 4.000 jährlichen Petitionen nehmen die Richter nur 150 bis 200 an. Der oberste Gerichtshof hat sich entschieden, in Sachen Computergewalt ein Machtwort zu sprechen.

»Urteile des Supreme Court haben mehr Bestandskraft als Gesetze«, erklärt Matt MacLean von Obsidian. »Der Kongress kann in einem Jahr ein Gesetz erlassen, und dann löst es der nächste Kongress ein Jahr später wieder auf. Wenn dagegen der Supreme Court gesprochen hat, dann gilt die Debatte als entschieden.«

Entsprechend fiebrig erwartet die Spieleindustrie das Urteil. Sie erhofft sich einen Schlussstrich unter gesetzliche Einmischung. Sollte das Gericht dagegen Kalifornien Recht geben, hieße das, bestimmte Formen der Gewaltdarstellung vom Schutz der Redefreiheit auszunehmen. Das wäre eine Sensation.

Die Sache mit dem Sex

Allerdings: Es wäre nicht das erste Mal, dass der erste Verfassungszusatz eingeschränkt wird. Der größte Trumpf der Kalifornier heißt Ginsberg v. New York.

In Mass Effect deutet Bioware Sex nur an, explizite Bett-Szenen gibt's nicht zu sehen. In Mass Effect deutet Bioware Sex nur an, explizite Bett-Szenen gibt's nicht zu sehen.

1968 hatten sich der New Yorker Imbissbudenbesitzer Sam Ginsberg und seine Frau bis zum Supreme Court durchgeklagt. Sie waren verurteilt worden, weil sie einem 16jährigen Jungen zwei »Girlie«-Magazine mit Nacktbildern verkauft hatten, im Staat New York als jugendgefährdend verboten.

»Das Wohl von Kindern fällt selbstverständlich unter das Regulierungsrecht des Staats«, erklärte damals der wortführende Richter William J. Brennan. Das Gericht bestätigte das Verkaufsverbot, die Ginsbergs verloren. Seitdem hat der Supreme Court in mehreren Fällen bekräftigt, dass Pornographie und Obszönität nicht automatisch durch die Redefreiheit geschützt sind.

»Es gibt keinen Mangel an ›Studien‹, die zu belegen behaupten, dass Obszönität wahlweise ein grundlegender Faktor zur Beeinträchtigung der ethischen Entwicklung der Jugend ist oder eben nicht«, kommentierte Richter Brennan 1968 das Ginsberg-Urteil, »aber Konsens der Experten ist: Während diese Studien sich alle einig darin sind, dass ein kausaler Zusammenhang bisher nicht bewiesen ist, so sind sie sich ebenso einig darin, dass ein solcher Zusammenhang auch nicht ausgeschlossen wurde.« Das Gleiche kann man über den Stand der Forschung zu Gewalt in Videospielen sagen.

Aus Sicht Kaliforniens gelten für Gesetz AB 1179 dieselben Argumente wie für das Ginsberg-Urteil. Wenn man Kinder vor Pornographie beschützen darf, warum dann nicht auch vor massiver Gewaltdarstellung? Das Bundesland plädiert auf Gleichbehandlung.

Drohen Preiserhöhungen?

Den Branchenverbände gilt ein solches Urteil als Katastrophenfall, für den sie Sodom und Gomorrah beschwören. Ihnen schwanen Willkür, Zensur und Folgekosten.

Durch das kalifornische Gesetz drohe »die Verwandlung des freiwilligen Alterseinstufungssystem ESRB in eine Zensurkommission«, poltert der ESA-Anwalt Paul Smith bei der Anhörung vor den Richtern des Supreme Courts. »Zusätzliche Kosten für Entwicklung, Marketing und Verkauf für Spiele mit Gewaltinhalten werden auf die Preise aufgeschlagen und an die Käufer weitergereicht werden«, mahnte die ECA-Rechtsleiterin Jennifer Mercurio. Dabei ist völlig offen, wo auf die Hersteller neue Kosten zukommen sollen, die nicht im Bereich ESRB-Prüfgebühren von 2.500 Dollar liegen -- selbst für kleinere Firmen eine verschwindend geringe Summe.

Wahrscheinlicher erscheint der Zwang, Rückstellungen zur rechtlichen Absicherung zu bilden. Denn wenn Kalifornien sein Gesetz bekäme, dürften viele der 50 US-Bundesstaaten ähnliche Paragraphenwerke stricken, womöglich mit unterschiedlichen Vorgaben. »Das Resultat wäre ein rechtliches Minenfeld für Spielehändler und Hersteller«, befürchtet der Microsoft-Programmierer David Lawson. Im klagefreudigen Amerika ist das eine berechtigte Sorge.

»Vielleicht landen wir ja auf der gleichen Stufe wie die Tabakindustrie mit riesigen Warnstickern auf den Packungen«, ätzt der Obsidian-Mann Josh Sawyer, »für Eltern, die nicht in der Lage sind zu erkennen, dass ›Turbo Köpfer 4‹ ein gewalthaltiges Spiel ist.«

Droht Selbstzensur?

Die ECA-Rechtsleiterin Jennifer Mercurio warnt gar vor einem Szenario, bei dem sich an geschnittene Versionen gewöhnte deutschen Spieler ein Lächeln schwer verkneifen können: »Spielehersteller würden sich vielleicht bis zu dem Punkt zensieren, wo sie eine Version für die USA herstellen und eine andere für den Rest der Welt.«

Fahrenheit erschien in den USA unter dem Titel Indigo Prophecy komplett ohne Sex-Szenen. Fahrenheit erschien in den USA unter dem Titel Indigo Prophecy komplett ohne Sex-Szenen.

Das ist aber schon deshalb weit hergeholt, weil sich amerikanische Hersteller seit langem einer Alterskontrolle unterwerfen, dem freiwilligen ESRB-System (Entertainment Software Rating Board). Wer das umsatzträchtige »Teen«-Siegel tragen und sein Spiel damit ab 13 Jahren verkaufen will, muss selbstverständlich den Gewaltgrad drosseln.

Vor allem aber setzen US-Firmen seit jeher problemlos die Schere an, sobald es um sexuelle Inhalte geht. Selbst eine kanadische Firma wie Bioware traut sich Bettszenen in den Mass Effect-Spielen nur dann zu, wenn dabei kein blanker Busen zu sehen ist. Denn Schamlosigkeit führt schnell zum höchsten ESRB-Rating »Adults Only«, ab 18. Ein Titel mit diesem Siegel ist praktisch unverkäuflich, die Einstufung kommt einer Indizierung gleich. Denn die meisten US-Handelsketten führen AO-Spiele maximal unter der Ladentheke.

Dass kein Hersteller dieses Risiko um der künstlerischen Freiheit willen eingehen mag, belegt die Statistik: Von den knapp 20.000 Titeln, die die ESRB seit 1994 bewertet hat, bekamen nur 24 das 18er-Siegel, rund 0,1 Prozent -- davon eines wegen Gewalt, eines wegen Online-Glücksspiels, der Rest wegen sexueller Inhalte. Darunter befinden sich die drei deutschen Titel Singles, Wet und Lula 3D.

Das Kainsmal AO trifft ausschließlich PC- und Mac-Titel, denn kein Konsolenhersteller akzeptiert so riskante Ware. Entsprechend erscheinen europäische Spiele wie The Witcheroder Fahrenheitin den USA als geschnittene Fassung ohne Sex. Dass der europäische Markt jemals eine heißere Nippelversion eines keuschen US-Blockbusters bekommen hätte, ist nicht überliefert.

3 von 5

nächste Seite


zu den Kommentaren (176)

Kommentare(169)
Kommentar-Regeln von GameStar
Bitte lies unsere Kommentar-Regeln, bevor Du einen Kommentar verfasst.

Nur angemeldete Benutzer können kommentieren und bewerten.