Eine Sternstunde der Adventure-Geschichte

Das Leben in Los Angeles im Jahre 2019 ist düster. Die maßlos überbevölkerte Stadt wird täglich von verseuchtem Dauerregen heimgesucht; die Straßen sind bis ins...

von - Gast - am: 28.04.2012

Das Leben in Los Angeles im Jahre 2019 ist düster. Die maßlos überbevölkerte Stadt wird täglich von verseuchtem Dauerregen heimgesucht; die Straßen sind bis ins kleinste Eck mit verrottetem Essen, altem Blech und weiterem Müll bedeckt. Tiere, Pflanzen und Bäume sind größtenteils ausgestorben, sind unbezahlbar und verweilen nur noch in den Gedanken derer, die eine bessere Zeit erleben durften. Doch der letzte Funken Hoffnung soll noch einige Zeit bestehen. Tagtäglich wird den Menschen durch an jeder Ecke hängenden Werbebildschirmen eine bessere Welt versprochen. Eine bessere, außenplanetare Welt. Die Megamanufaktur Tyrell Corporation hat bereits das sechste Modell ihrer Nexus-Serie fertiggestellt. Künstlich erzeugte Menschen, die einzig und alleine konstruiert wurden um außerplanetarische Räume zu erschließen und sich selbst ein besseres Leben zu ermöglichen. All ihre Erinnerungen sind künstlich erzeugt, ihre Lebenszeit ist punktgenau auf vier Jahre begrenzt, sie denken, handeln, fühlen wie echte Menschen, sind ihnen körperlich und geistig überlegen. Sobald ein Replikant den außerplanetarischen Raum verlässt und zur Erde gelangt, wird es ihnen nicht mehr lange verborgen bleiben, dass sie eigentlich nur Maschinen sind, die dem Will der Menschheit folgen. Eine Spezialeinheit, die sogenannten Blade Runner, sind darauf spezialisiert, weitentwickelte Replikanten der Reihe Nexus 6 auf der Erde aufzuspüren und aus dem Verkehr zu ziehen, denn die übermenschlichen Fähigkeiten eines Replikanten können Tausenden das Leben kosten. Kurz gesagt: Ein modernes Sklaventum. Phillip K. Dick, Autor des Romans „Träumen Androiden von elektrischen Schafen?“, der als Vorlage für Film und Buch „Blade Runner“ dient, hat wahrlich eine beängstigende Zeit prognostiziert, die gar nicht mehr allzu weit entfernt ist. Der Cyberpunk-Film liegt insgesamt in sieben veränderten Versionen vor, wurde als ein episches Meisterwerk gelobt, durch einige Logikfehler des Regisseurs Ridley Scott allerdings auch kritisiert. Das Ende bleibt bis heute ohne jegliche Hinweise von Phillip K. Dick offen. Die gesamte Handlung lässt viel Spielraum für Interpretationen, denn es liegen gute Argumente für einige Ansichten vor. Ob das Spiel „Blade Runner“ genauso vor den Bildschirm fesselt wie der gleichnamige Film, erfahrt Ihr in meinem Testbericht.

~ Der Alltag eines Blade Runners ~

Ein kritischer Vorfall ließ nach einer übermotivierten Produktion der ausgereiften Nexus-6-Reihe nicht mehr lange auf sich warten. Einige der hochentwickelten Replikanten kaperten einen Mondbus und gelangten somit zur Erde. Das Spiel beginnt identisch mit der Filmvorlage, ein langer Text rollt über den Bildschirm, der dem Spieler eine negative Eingebung über die katastrophale, futuristische Welt vermitteln soll. Das Intro zeigt Mr.Ruciter, einer der bestverdienensten Menschen der Stadt, der eine Tierhandlung am Stadtrand Los Angeles besitzt. „Der Handel mit Tieren ist ein sehr einträgliches, angesehenes Geschäft, seitdem die meisten, echten Tiere ausgestorben waren. Obwohl es viele elektrische mit Akku gab, kaufte sich niemand der etwas auf sich hielt so eine Fälschung.“ Ein Einbruch in Runciters Tierhandlung war nach dem Entfliehen einiger der gefährlichsten Reps abzusehen. Nachdem Lucy, arm, 15 Jahre alt und Runciters Sekretärin, das Geschäft verlässt, ist im Intro ein großer, dunkelgekleideter Mann zusehen, der den Laden auch nach Aufforderung nicht verlässt. Er droht Runciter und schlachtet zugleich einige seiner kostbarsten Exemplare an Tieren. Nach Ray McCoys, in dessen Rolle Ihr schlüpft, 12 stündigem Dienst, wird er von Guzza, stellvertretender Abteilungsleiter der Blade Runner, kurzfristig beauftragt diesen Vorfall zu investigieren. „Eine willkommene Abwechslung, denn das aufregendste das ich in dieser Nacht gesehen hatte, war eine schizoide Oma, die ihrer Unterwäsche Tänze aufgeführt hatte.“ Runciter wurden insgesamt über eine Million Chinien während des Raubzuges (Währung des Spiels) entwendet. Auch heute noch sind die Qualität und die Liebe zum Detail des Intros beachtlich.
Jetzt können wir das Geschehen endlich selbst in die Hand nehmen. Direkt vor Runciters Gelandet steigt Ray McCoy aus seinem Spinner aus, ein autoähnliches Flugzeug. Der Polizist, der vor der Tierhandlung steht und die Neugierige Menschenmasse zurückhält, klärt uns kurz über den Vorfall auf, und weist uns darauf hin, dass Runciter wahrscheinlich durch den Mord seiner kostbarsten Tiere Verhaltensstörungen aufweist. Wir finden direkt vor der Tür ein Kennzeichen, dass wir in unser adventure-typisch kurz mit einem Mausklick in unser Inventar aufnehmen. Zu unserer Rechten befindet sich ein eingeknickter Wasserhydrant mit Lackspuren eines schwarzen Fahrzeuges, dessen Spuren wir festhalten. Großartig ist hierbei, wie uns das Spiel durch das gesamte Geschehen führt: Es spielt in der Vergangenheit, denn McCoy dient zugleich als Erzähler, der uns während vielzähligen Vorfällen und Situationen seine Gefühle und Gedanken mitteilt. Zu guter Letzt finden wir vor der Eingangstür zur Tierhandlung noch eine Brechstange, die wir, neben den Lackspuren, ins Labor weiterleiten. Wir kommen Stück für Stück den wohl gefährlichsten und intelligentesten Replikanten auf die Spur, geraten in Verschwörungen und Situationen, die wir auswirkend auf den weiteren Spielverlauf selbst entscheiden müssen.

~ Handlungsfreiheit und 12 verschiedene Enden ~

1988 erschien das Adventure „The Scoop“, das ungewöhnlicher Weise in Echtzeit ablief. Im Klartext: Bist du zu spät, musst du versuchen dieses Rätsel auf eine andere, meist wesentlich schwierigere Art und Weise zu lösen. Das Phänomen „Echtzeit“ fand auch im Adventure Blade Runner einen Platz. Im Spiel müssen wir oftmals selbst Entscheidungen treffen, ob in Dialogen, oder der Griff in den Mantel zur Schusswaffe. Unsere Entscheidungen wirken sich zumindest kurzfristig auf das weitere Geschehen auswirken, hat man Blade Runner allerdings drei bis viermal durchgespielt, bekommt man das komische Gefühl, dass das Spiel eben doch linearer ist als zunächst angenommen. Ebenfalls sehr interessant ist der eingebaute Zufallsgenerator, der ebenfalls motiviert, das Spiel erneut durchzuspielen. Genauer gesagt werden wir beim zweiten Durchspielen in Vorfälle und Situationen verwickelt, die beim ersten Durchspielen niemals aufgetreten sind. Zwar sind diese beiden, neuartigen Prinzipien nicht ganz ausgereift, tragen schließlich aber doch zu einem weitaus offeneren Spielverlauf bei. In den großartigen Dialogen dürfen wir die Fragen selbst stellen, können im Menü allerdings auch bestimmen, wie McCoy auf die Leute zugehen soll, so dass er die Dialoge letztendlich selbst führt. Alle Spielfiguren haben eine eigene Synchronstimme erhalten, die Qualität der Vertonung und der Dialoge sind einfach hervorragend und auch im Genre des Adventures bemerkenswert. Durch die zwölf verschiedenen Enden und Showdowns, gewinnen die Entscheidungen des gesamten Spielverlaufs und durch den Zufallsgenerator wenigstens doch noch einmal zum Schluss deutlich an Priorität. Ich persönlich habe bisher allerdings nur vier mögliche Enden entdeckt. Auch sehr schön: Mit unserem Spinner können wir „frei“ zu einigen Regionen in der Spielwelt fliegen. Schade wiederum ist, dass uns das Spiel keinerlei Nebenaufträge oder Nebenhandlungen beschert. Wir bauen keinerlei Beziehung zu den übrigen Charakteren und auch sonst ist in der Spielwelt, neben unserer Hauptaufgabe, ziemlich wenig los. Trotzdem verbindet die Story Motive aus Film und Buch und ist mehr als spannend.

~ Das Los Angeles der Zukunft ~

Auch heute, oder vielleicht gerade heute müssen sich die wunderschön animierten Hintergründe nicht verstecken. „Wunderschön“ ist vielleicht das falsche Wort, denn das Los Angeles der Zukunft ist schmutzig, verregnet und dunkel. Sie sind künstlerisch wertvoll und vermitteln uns die Atmosphäre einer heruntergekommenen Erde perfekt. Die für damalige Verhältnisse hochaufgelösten Hintergründe hatten auch ihren Preis: Westwood lieferte das Spiel schon auf insgesamt vier CDs aus, und musste die Polygonzahl der interagierbaren Objekte und Charaktere sichtbar reduzieren. Hätten die hochaufgelösten Objekte auch einen Platz im Spiel gefunden, wäre wohl ein Wechsel der CDs jede halbe Spielstunde erforderlich gewesen, zugleich hätte Westwood allerdings ein wahres Feuerwerk an Grafik abgeliefert. Untermalt wird die Stimmung durch einen hervorragenden Soundtrack von Vangelis, der schon 1982 für den Spielfilm komponiert wurde und auch völlig zu Recht hier seinen Platz findet. Der Soundtrack und die Geräuschkulisse der Hintergrundatmosphäre betonen die Spielwelt, die Stimmung einer hoffnungslosen Welt. Kenner und Fans des Films, Fans von Cyberpunk werden durch die Blade Runner-Atmosphäre sofort vom Spiel verschlungen. Zwar erschienen zur selben Zeit vielleicht überlegene und bekanntere Titel wie Monkey Island, eine so ausdrucksstarke Atmosphäre durch alle genannten Mittel wie in Blade Runner hatte bis dato aber kein anderes Spiel derart intensiv zaubern können. Für mich ein nahezu unerreichter Meilenstein, gerade in Anbetracht des Alters des Spiels.

~ Esper und Kia ~

Ein Adventure, das in der Zukunft spielt, muss natürlich auch spielerisch technisch hochentwickelt sein. So können wir mit Esper Bilder und Videoaufnahmen, die wir im Spielverlauf immer mal wieder finden, verlustfrei zoomen und untersuchen. Oftmals enthalten sie einige nützliche Informationen, die für den weiteren Spielverlauf erforderlich sind. Eine durchaus nette, zuvor noch nie gesehene Sache. Auch unser multifunktionelles Inventar Kia enthält eine komplette Hinweisdatenbank, sodass wir uns auch bereits geschehene Ereignisse von McCoy immer wieder erzählen lassen können. Wer jetzt auf komplexe Rätseleinlagen in Blade Runner hofft, wird enttäuscht, denn kein einziges Mal im Spiel ist irgendein Gegenstand aus unserem Inventar für ein kleines Rätsel erforderlich. Das macht aber nichts, denn Blade Runner spielt anderweitig seine Stärken aus.

~ Fazit ~

Das Spiel ist wahrlich ein Klassiker, und aus heutiger Sicht vielleicht sogar ein wenig unterschätzt worden. Es führt uns neuartig, teils ein wenig humorvoll durch das Spielgeschehen, uns wird von der Vergangenheit erzählt, die wir durchspielen und gleichzeitig selbst bestimmen dürfen. Die Story, die Elemente und Motive aus Film und Buch verbindet, die exzellenten Dialoge und die wunderschön animierten Hintergründe werden so manchen Adventure-Fan sicherlich noch heute beeindrucken und ein Staunen ins Gesicht beschwören. Es stört überhaupt nicht, dass Blade Runner spielerisch teils ein wenig unausgereift wirkt, wenig weitere Handlungsstränge neben der Story bietet und die übrigen Charaktere im Regen stehen lässt. Blade Runner weiß den Spieler durch eine neuartige, innovative Spielmechanik und eine unerreichte, ausdrucksstarke, düstere Atmosphäre auch emotional zu beeindrucken. Eine Sternstunde der Adventure-Geschichte.

wunderschön animierte Hintergründe
viele Szenarien
grandiose Endzeitstimmung
dynamischer Spielablauf, zwölf verschiedene Epiloge
ausgezeichnete Musik, Geräuschkulisse aus der Filmvorlage adaptiert
tolle Dialoge, phänomenale Synchronisation

Gegenstände und Charaktere zu gering aufgelöst
wenige Rätsel, wenige Interaktionen durchführbar, wenig weitere Handlungsstränge
Orte wirken nach einiger Zeit leer


Wertung
Zusätzliche Angaben

Schwierigkeitsgrad:

genau richtig

Bugs:

Nur sehr wenige

Spielzeit:

Mehr als 10, weniger als 20 Stunden



Kommentare(2)
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