Intensiver Cyberpunk-Psychotrip

Die Layers of Fear-Macher versuchen sich im Cyberpunk-Genre - inklusive Rutger Hauer als Neurodetektiv.

von TheVG am: 05.01.2020

„Eine beachtliche Erfahrung, in Furcht leben zu müssen...“

Manchmal werden Zitate geschrieben, die passen zu einem späteren Zeitpunkt wie die Faust auf´s Auge. Ich kann den Kontext der Dialogzeile ein wenig verdrehen, und das, was die Figur des Roy in Blade Runner beschreibt, kann ich mir umgehend als Fazit für dieses Adventure in Egoansicht umdeuten. Als besonderes Schmankerl vertonte für Observer eben jener Schauspeler die Hauptfigur, der das obig genannte Zitat vor der Kamera vorgetragen hatte.

Rutger Hauer himself, eine Lichtfigur im Cyberpunk-Genre, spielt mit Daniel Lazarski die tragende Rolle in einem Spiel, das das Erfolgsrezept der Layers of Fear-Mechanik in ein futuristisches Szenario taucht. Dystopie statt klassisches Herrenhaus – intelligente Variation oder nur ein Abklatsch, der nicht funktioniert? Ich habe mich in diesen interaktiven Psychotrip begeben und wollte es genau wissen.

Düstere Aussichten

Türkis-grau-blau eingefärbte Szenerie, in den Himmel ragende Megacities, technologischer Fortschritt und dessen Bedrohungspotenzial für den Menschen – nur einige der Zutaten, die im Cyberpunk wichtig sind. Was nun im ersten Moment wie eine lose Referenz an den eigenen Vorgängertitel Layers of Fear im Blade Runner-Gewand erscheint, entpuppt sich schnell zu einem intensiven Erlebnis, das beide und noch weitere Fanlager begeistern dürfte.

Schon die Einführungsszene macht klar, dass das Bloober Team seine Bemühungen sehr ernst nahm, dem Hauptgenre gerecht zu werden. So sitzt unser Alter Ego Daniel Lazarski, ein Neuro-Detective bei der Krakauer Polizei (Observer genannt) in seinem Wagen und erhält einen verstümmelten Anruf von seinem Sohn; draußen prasselt der Regen klatschend gegen die Frontscheibe, die Straßen sind in kühlen Töne getaucht. Beide haben sich seit Jahren entfremdet, doch zögert der Vater nicht, seinem Sprössling zu Hilfe zu eilen. Natürlich wird es kein versöhnliches oder harmonisches Zusammentreffen werden, sondern ein Rätselraten um Leichen, Augmentierungen und einem undurchsichtigen Megakonzern. Dies gilt es nun in einem Mietshaus zu erkunden – also ganz wieder die klassische Haunted-House-Atmosphäre des Vorgängers, denn riegelt sich der Komplex wegen einer Virusbedrohung automatisch ab.

Leichen pflastern Lazarskis Weg - da beißen sich selbst die bekannten TV-Detektive die Zähne aus

Der Entwickler variiert indes mit dem Subtext der Story. Während in Layers of Fear Schizophrenie eine Rolle spielt, bedient er sich bei genreüblichen Inhalten, um tiefere Aspekte des Menschseins zu erkunden. Lazarski hat nämlich die Lizenz zum Gehirnhacking, so dass er sich in den Neuroprozessor augmentierter Menschen einklinken kann. Und hier liegt der Clou in diesem 3D-Adventure, denn wohnen wir dem Gedankenmatsch nicht nur bei, sondern spielen ihn selbst durch.

Gruseliger Cyberpunkkrimithriller-Psychotrip

LoF-Veteranen dürften mit der Bedienung keine Probleme haben, dann spielt sich Observer in jeder Hinsicht ähnlich. Neben der freien Bewegung öffnen wir alle möglichen Schubladen, Türen und Schränke mit der Maus (ebenfalls bewegungssensitiv) und ermitteln so in klassischer Krimimanier. Noch ein bisschen cooler wird die Indiziensucherei mit alternativen Bio- und Techansichten, mit denen wir Geräte oder Blutspuren gesondert untersuchen müssen oder Codetafeln hacken.

Das Spielgefühl mag sich für Shooterspieler anfangs etwas träge anfühlen, ist aber der Atmosphäre zuträglich, denn sollen wir natürlich nicht in Windeseile durch den Wohnkomplex flitzen und mal schnell einen Fall lösen. Dynamik entfaltet sich sowieso nur in den Hack-Abschnitten, wenn wir streng linear durch chronisch verzerrte Szenen schreiten und Lebensabschnitte von Mordopfern nachzeichnen bzw. bezeugen. Stilistisch macht das einiges her, kann aber auch mit der Zeit anstrengend für die Augen werden – nicht umsonst wird zu Beginn eine gesonderte Epilepsie-Warnung eingeblendet. Selbst die Flure der realen Welt sind permanent in einer Art digitalen Overlay-Optik gehalten und wirken dadurch stark verfremdet.

Wenn ich den allgemeinen Eindruck der Atmosphäre beschreiben soll, dann müsste ich mit Adjektiven wie „abstrakt“, „anstrengend“ und „permanent bedrohlich“ arbeiten und würde all die Facetten noch nicht eingeschlossen haben, die sich dem Spieler hier präsentieren. Der Entwickler nutzt nahezu alle Möglichkeiten optischer Effekte, spielt offen mit Brennweiten, Lichtstimmungen und Schnittorgien, um gerade die Hacking-Sequenzen zu einem Psychotrip der besonderen Art zu machen. Das Bloober Team scheut sich jedenfalls nicht, jeden inszenatorischen Schnickschnack in ihre Sequenzen einzubauen und experimentierte fröhlich drauf los, was nicht heißen soll, dass der Wohnkomplex im Gegenzug völlig bieder oder uninteressant wirken würde – denn auch dort werden wir mit einigen grotesken Bildern konfrontiert.

Es stimmt also, dass man von zu viel Fernsehen viereckige Köpfe bekommt...

Nun würde es zu kurz greifen, Observer nur als Horror- oder Cyberpunkspiel zu katalogisieren. Zwar bedient sich der Entwickler etlicher Inspirationen aus dem Ring- oder Blade Runner-Universum, ist aber vielmehr ein Stilmix aus allem Möglichen beider Genres, mit zusätzlichen Kreativquellen angereichert und kann deshalb als eigenständiges Endprodukt bezeichnet werden. Ich finde es schon sehr cool, wie klassischer Grusel mit neostilistischen Mitteln vermischt wird, aber auch sehr tiefgründig wird und den Figuren postmortal eine Vorgeschichte mitgibt, die wir in verzerrter Optik miterleben. Da steckt vielschichtige Substanz dahinter, und die finale Auflösung, wo die Fäden zusammenlaufen, dürfte für so manch offene Kinnlade sorgen.

Statik, die begeistert

Um das technisch standesgemäß präsentieren zu können, wurde die Unreal Engine 4 gut ausgereizt. Der Look wirkt sehr organisch, schafft spielend die Darstellung von langen Schatten oder hektischen Cutscenes, ohne an Qualität einzubüßen und allzu hardwarehungrig zu sein. Die Polen haben die Welt mit Details vollgestopft und so ein stimmiges, dystopisches Abbild kreiert, die gerade im Kellergeschoss des Wohnblocks zur Geltung kommen. Tief stehende Baulampen zeichnen lange Schatten auf kahle Flure, die mit dem Müll achtloser Mieter gesäumt sind. Der Fokus des „Worldbuildings“ liegt auf der Umgebung, denn bis auf ein paar Passanten in der Eröffnungsszene und den Hausmeister Janus wird uns kein Bewohner über den Weg laufen. Das mag dem ein oder anderen zu wenig sein – doch hatten die Entwickler nicht die Absicht, es Cyberpunk 2077 gleichzutun, wo für eine lebendige, offene Spielwelt Betriebsamkeit eine Rolle spielt, sondern ein auf den Spieler zugeschnittenes Bühnenbild zu offerieren. Das wirkt zuweilen statisch, aber sehr stimmungsvoll.

Beim Sound ist es ähnlich. Neben realer Geräuschkulisse sorgen Musikstücke und Keyboardloops für subtilen Grusel und beste Cyberpunk-Atmosphäre. Das Sounddesign ist für mich mitunter eines der besten, das mir in die Gehörgänge geriet und ist voll nach meinem Geschmack. Zuweilen gelingt es ihm sogar, mir ein beständiges, laues Gefühl in die Magengrube zu pflanzen, und das hat seit System Shock 2 kein Spiel mehr wirklich geschafft gehabt, das mit seinem (immer noch amtlichen) Sounddesign in die Spiele-Annalen einging. Wer wie ich anfällig für subtile Spannungsszenen ist, dem empfehle ich, sich in die erste aufzusuchende Wohnung zu stellen, die kopflose Leiche zu betrachten und sich vom ambienten Wummern der Hintergrundmusik allmählich kirre machen zu lassen. Aber auch anders gepolte Audiophile werden ihre helle Freude am Sound haben, so ist Observer auch etwas für die, die sich mit Layers of Fear ihre Gruseldosis abgeholt haben und auf der Suche nach Nachschub sind. Freunde von Jumpscares werden hingegen in den Gehirnhacks aufspringen dürfen, obwohl diese nicht so exzessiv eingesetzt werden wie in anderen modernen Genretiteln ähnlicher Machart.

In der Bioansicht wird die Ermittlung um so interessanter

Bei all dem Lob für die Technik ist mir die Sprecherqualität ein bisschen sauer aufgestoßen. Gerade bei Rutger Hauer schlagen zwei Herzen in meiner Brust, weil ich ihn als Schauspeler gerne gesehen habe, er hier aber ein bisschen wie der nette Opa anmutet, der beim Nachbarn um eine Tasse Mehl bittet. Auch bei seinen Gesprächspartnern kann ich mich dem Eindruck erwehren, dass die Dialoge mitunter sehr schablonenhaft geschrieben wurden. Es hilft mir zwar inzuordnen, dass Mieter X ein auffällig aufrechter Bürger ist und Mieter Y ständig seine Frau anpflaumt, doch komme ich nicht umher festzustellen, dass gerade die Dialoge sowie die Leistung der Akteure einer Überarbeitung bedurft hätten. Ein bisschen schade für das Stimmungsbild, hatte Hauer doch eine coole Reibeisenstimme, die etwas resoluter hätte klingen können. Zusätzlich fehlt mir die innere Zerrissenheit des Hauptcharakters um das zerrüttete Verhältnis mit seinem Sohn. Eine deutsche Version ist indes den Untertiteln vorbehalten, die Übersetzung ist gut gelungen.

Kunst um der Kunst willen

Unter dem Strich ist dies der einzige Punkt, den ich als misslungen erachte. Der fällt nämlich weit weniger ins Gewicht, betrachtet man das Spiel, das zwar arm an Interaktionen ist, aber weder ein dynamischer Actiontitel oder ein Sandbox-Spiel sein will, sondern lieber Akzente in seiner künstlerischen Präsentation und der Atmosphäre setzen will.

Die Polen vom Bloober Team haben hier ganze Arbeit geleistet und die Vorschusslorbeeren des Vorgängertitels auch mit diesem Zukunftszenario bestätigt. Dabei haben sie sogar noch mehr geschafft, nämlich einen Genre- und Stilmix zu programmieren, der auf der düsteren Ebene vielseitige Stimmungen erzeugen kann. Dass sie Fans des Cyberpunk-Genres sind, sticht deutlich heraus, und das gefällt mir als ebensolcher richtig gut.

Schade nur, dass ein Wiederspielwert kaum vorhanden ist. Diese streng geradlinige Erfahrung mit seinen abstrakten Eindrücken möchte ich abschließen, wie ich diesen Text begonnen habe – mit einem Blade Runner-Zitat, das wieder passend erscheint:

„All diese Momente werden verloren sein in der Zeit, wie...Tränen im Regen.“


Wertung
Pro und Kontra
  • Stark atmophärische Optik
  • Sehr stimmige Soundkulisse
  • Stilsicherer Genremix
  • Spannende Story
  • Atmosphäre zum Schneiden
  • Detaillierte Spielwelt
  • Sprecherqualität schwankt stark
  • Kaum Wiederspielwert
  • Steuerung etwas träge und umständlich

Zusätzliche Angaben

Schwierigkeitsgrad:

eher leicht

Bugs:

Nur sehr wenige

Spielzeit:

Mehr als 5, weniger als 10 Stunden



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