Jump&Run - Mit Liebe zum Detail

Vorwort Ein Jump&Run also. Wo man mit nem roten Wollwesen durch Schweden hüpft. Soso. Das dachte ich mir zumindest, als ich mir Unravel kaufte, weil...

von CherryGuard am: 14.02.2016

Vorwort

Ein Jump&Run also. Wo man mit nem roten Wollwesen durch Schweden hüpft. Soso. Das dachte ich mir zumindest, als ich mir Unravel kaufte, weil ich nach einem kleinen Zeitvertreib für zwischendurch suchte. Ich konnte ja nicht ahnen, was da auf mich zukommen sollte.

"Ist das nicht total öde?", wird man sich zurecht fragen - Mitnichten! 

Denn nur in Unravel gleite ich, sanft auf einem Holzstückchen balancierend, über einen Bach dahin, welcher in einem prachtvoll in Szene gesetzten See mäandert, während ich im Hintergrund das leuchtende Abbild eines sich liebenden, jungen Geschwisterpaares, umarmt von einer malerischen, glühwürmchengetränkten, schwedischen Sommernacht bestaunen darf. 

Alles andere als langweilig - eher berührend. Doch eins nach dem anderen.

Story

Eine in die Jahre gekommene, grauhaarige Frau betrachtet mit einem sanften Lächeln ein altes, gerahmtes Foto. Gefolgt von einem melancholischen Seufzer. Mit ihren Strickutensilien, gesammelt in einem Bastkorb, bewaffnet macht sie sich auf den Weg in die obere Etage ihres liebevoll eingerichteten Zuhauses. Doch, was ist das? Ein Knäuel rotes Garn macht sich selbstständig und kullert die Treppe herunter über den Boden des Wohnzimmers. Und als sei dem noch nicht genug, erwacht das Knäuel zum Leben und manifestiert sich in der Gestalt unserer Spielfigur - Yarny.

So weit so gut. Ein eher stumpfer Einstieg in ein Spiel will man auf den ersten Blick meinen. Was will man auch erwarten? Kostet ja auch nur 20 Steine. Doch weit gefehlt! Unravel ist mehr als es zu sein scheint - mit einer unglaublich emotionalen, sowie berührenden Geschichte über Leben, Liebe, Freundschaft, Familie und Mutter Natur. Doch ich möchte nichts vorweg nehmen. Unravel will gespielt und entdeckt werden, der Tiefgang kommt von ganz allein. 

Vorweg sei gesagt:

Im Verlauf des gesamten Spiels Grübele ich über mich selbst als Yarny, den wollenen, anthropomorphisierten Retter der Erinnerungen nach und Frage mich während der Reise, auf die mich das Spiel mitnimmt, in welcher malerischen Umgebung ich wohl als nächstes lande und welche vergangenen Ereignisse mich dort erwarten. Die Geschichte wird nämlich in Form von Episoden erzählt, die jede für sich den Spieler, samt Yarny, eine Erinnerung der Hausbesitzerin durchleben lassen, welche wir über ein Foto betreten können. Selten erlebte ich ein so wohl durchdachtes Storytelling. Gänzlich ohne zu erzählen.

 

Grafik/Leveldesign

Passend zu der Geschichte, die Unravel erzählt, ist auch seine Grafik wunderschön.

Die einzelnen Levels wirken fast schon wie Gemälde auf den Spieler und sind unglaublich detailverliebt. Im Hintergrund einer Winterlandschaft grasen Rentiere, im Wohnzimmer des Hauses, in dem wir uns im Verlauf des Spiels oft wiederfinden werden, bewegt sich das Pendel einer Pendeluhr von rechts nach links, in einem von rot-goldenem Herbstlaub gesäumten Wald fallen abgestorbene Blätter von den Bäumen und wehen von einer lauen Brise getragen an uns vorbei... Die Welt ist schlicht wundervoll und ich konnte mich an ihr nie satt sehen. Zu sehr zog sie mich gleich zu Beginn in ihren Bann, hatte ich schlichtweg nicht mit so einem Grafikfeuerwerk gerechnet. Nicht zuletzt die Optik ist es, die Unravel seinen Charme verleiht. Das gesamte Konzept des Spiels ist darauf ausgelegt eine Botschaft zu vermitteln. Die Geschichte ist emotional, ehrlich und berührt auf unglaublich schöne Weise, was die Grafik als Medium unterstreicht. Wer auf knallige Farben, übermäßig in Szene gesetzte Grafikeffekte, wie Explosionen und actionlastige Animationen aus ist, der ist hier ganz klar fehl am Platz. Unravel kommt einer spielbaren Postkarte gleich. Es nimmt den Spieler mit auf eine unglaublich angenehme Reise quer durch die Jahreszeiten des faszinierenden Schwedens, gespickt mit zum staunen anregenden Ereignissen gepaart mit Denkanstößen, die zum grübeln über den eigenen Lebenswandel und den der Gesellschaft, in der wir leben, verleiten. 

 

Gameplay

Da unsere Hauptfigur Yarny, ein aus Garn gestricktes Wesen ist, hat er selbstredend auch spezielle Fähigkeiten, die sich diesen Umstand zu nutze machen. Mit dem roten Faden, den wir permanent hinter uns herziehen können wir, werfen wir ihn nach alter Cowboymanier wie ein Lasso durch die Gegend, wie Tarzan an seiner Liane, umherschwingen und überdies durch verknoten des Garns zwischen zwei nahe beieinander gelegenen Punkten eine Art Trampolin erschaffen mit dem wir Ebenen, die zu hoch liegen um sie durch bloßes Springen zu erklimmen, erreichen können.

Auch die Jump&Run-typischen Rätseleinlagen kommen nicht zu kurz und sind super in die Level implementiert. Ständig muss der Spieler daran tüfteln, wie er durch den Einsatz von Yarnys Fähigkeiten in Zusammenspiel mit seiner direkten Umgebung das nächste Hindernis überwinden kann. Hierbei wäre allerdings eine bessere Checkpointverteilung in ein oder zwei Levelabschnitten durchaus ratsam gewesen. 

Die Physik innerhalb der Levels, sowie die der Spielfigur, ist jedoch erstaunlich realistisch und auch zufriedenstellend Präzise. Mit Logik und gesundem Menschenverstand kommt man hier stets ans Ziel.

Und es passiert so viel! Da flaniere ich verträumt und nachdenklich mit einer Gelassenheit, die an Katharsis grenzt durch die wundervoll ausschauende, detailverliebte Welt der Erinnerung in welcher ich mich gerade fortbewege und PLÖTZLICH, so dass es mich von Wolke Sieben direkt in die Realität zurückholt schießt ein wildgewordenes Nagetier auf mich zu, fallen Steine in einem mörderischen Tempo auf mich herab, setzen sich die Mechaniken einer Wassermühhle in Gang oder schießt ein fahrendes Auto über mich hinweg und versetzt mich in pure aufregung! Das spiel spielt (!) mit mir und bemüht sich auf charmante Art und Weise mich nicht vergessen zu lassen, dass ich auf wichtiger Mission unterwegs bin und jederzeit die Möglichkeit besteht das Zeitliche zu segnen. Durch fulminante Inszenierung versteht sich. Des öfteren fliege ich wild durch die Luft, ohne das Geringste dagegen unternehmen zu können. Grandios. 

Die Tode sind zudem von äußerst unschöner Natur. Da werde ich am Strand von Krabben zerfetzt und auf den Boden geschleudert, mechanische Kolben walzen mich platt oder eine herunterklappende Tür begräbt mich, samt Steinen unter sich. So sehr man sich mit Yarny identifiziert, umso mehr möchte man den kleinen Kerl aus Garn vor seinem Bildschirmtod bewahren, ist es doch ein wenig so, als würde man selbst für 3 Sekunden ins, ich muss es einfach noch einmal betonen, wunderschön modellierte, virtuelle Gras beissen.

Unravel ist stets fordernd, doch keineswegs überfordert es den Spieler. Witzig ist, dass man manchmal einfach zu viel denkt und des Rätsels Lösung einem quasi direkt vor der Nase liegt.

Sound/Atmosphäre

Die musikalische Untermalung des Spiels ist rundum gelungen. Der Soundtrack ist nie störend und sein Grad an Atmosphäre kommt fast schon meditativen Klängen gleich. Wie passend, dass Yarny, die Spielfigur, sich im Schneidersitz zum Meditieren niederlässt, starten wir notwendigerweise den Levelabschnitt neu! Es passierte mir oft, vor allem wenn ich spät abends spielte, dass ich kurz innehielt auf den Bildschirm vor mir blickte, die wundervolle Umgebung betrachtete, schmunzelte, und mich kurz zurückfallen ließ um die Augen für einige Sekunden zu schließen und der Streichmusik gepaart mit den dezenten Umgebungsgeräuschen zu lauschen. Welt aus - Unravel an! Ich musste mich beherrschen nicht einzuschlafen. Darüber hinaus passt sich die Musik durchweg der aktuellen Situation an und vermag es den Spieler, also mich, zur Hektik zu treiben und einen kniffeligen Abschnitt schnell hinter mich bringen zu wollen, indem es mir eine wahre Kakophonie von Tönen entgegenschleudert. Folge ich diesem dezenten Wink mit dem Zaunpfahl, werde ich im Anschluss umgehend mit wunderschönen, melodischen Tonfolgen belohnt und kann sogleich wieder entspannen und die Seele baumeln lassen. Nicht zuletzt deswegen ist Unravel ein hervorragendes Spiel für ruhige Feierabende unter der Woche oder gemütliche Sonntage.

Darüber hinaus versteht es das Spiel über die, leider etwas knapp bemessene, doch dem Preis gerecht werdende, Spieldauer eine enge Bindung zwischen mir und der Hauptfigur aufzubauen. ich kann dem roten Wollmann (Ja, für mich ist es ein Mann) jede seiner Empfindungen wie Angst, Erstaunen, Zuneigung oder Beklemmnis ansehen und ich nehme sie ihm auch zu einhundert Prozent ab. Ein staunender, manchmal zaghafter blick der durch die Umgebung schweift, sobald ich ein neues Level betrete, eine Umarmung hier, ein drolliges Stolpern dort, wenn es denn dann doch mal ein wenig zu steil bergab ging. Yarny wirkt durch und durch menschlich, seine Gefühle sind ehrlich. Und das macht ihn schlussendlich so sympathisch. Über kurz oder lang identifiziert der Spieler sich auf Grund dessen mit ihm. Den verblassten Erinnerungen der alten Dame wieder leben einzuhauchen wird zu einer persönlichen Angelegenheit.

Fazit

Unravel liefert, wie schon Ori and the Blind Forest, den Beweis: Jump&Run kann mehr als stures hüpfen und rennen. Und dessen Protagonisten können weitaus mehr als Pilzefressen und der Laszivität kleinbeigeben! Jump&Run kann bewegen, berühren und Faszinieren!

Und sind Faszination, Emotion und Begeisterung nicht letztlich auch irgendwo zumindest ein Paar der Gründe aus denen wir uns immerwieder vor die Flimmerkiste setzen und in fingierte, virtuelle Universen eintauchen? Unravel ist für mich ganz klar eines: Kunst.

Abschließend bleibt mir nur zu sagen, ich wünsche mir auch in Zukunft weiterhin Releases dieser Art, denn sie sind es, die aus meiner Sicht die Spielerschaft daran erinnern, welcher ganz und gar nicht sinnfreien Beschäftigung sie da in ihrer Freizeit frönen.

Auch wenn ich selbst schon ganz gespannt auf das Erscheinen von The Division warte und es mich schon in den Fingern juckt, allein bei dem Gedanken mich bald durchs virenverseuchte New York ballern zu können.


Wertung
Pro und Kontra
  • Emotionale, faszinierende Story
  • Wunderschöne Grafik
  • Packende Atmosphäre
  • Klasse Soundtrack
  • Gute Physik
  • Drolliger Hauptcharakter
  • Wohl durchdachte Rätselmechanik
  • Checkpointverteilung
  • Nicht viel Wiederspielwert
  • Keine Kämpfe/Action (für die, dies brauchen)

Zusätzliche Angaben

Schwierigkeitsgrad:

genau richtig

Bugs:

Nein

Spielzeit:

Mehr als 5, weniger als 10 Stunden



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