Mach’s noch einmal, Tim!

Nach einer gefühlten Ewigkeit an Entwicklungsdauer und einem Jahr Publisher-Odyssee veröffentlicht Double Fine Productions endlich ihren Erstling Psychonauts....

von Hierro am: 27.03.2008

Nach einer gefühlten Ewigkeit an Entwicklungsdauer und einem Jahr Publisher-Odyssee veröffentlicht Double Fine Productions endlich ihren Erstling Psychonauts. Hat sich die lange Wartezeit gelohnt? Kann Tim Schafers Team die hohe Erwartungshaltung rechtfertigen? Antwort auf diese Fragen gibts im ausführlichen Test.

Von vorgestern

Wir schreiben das Jahr 2005. Die ganze Spieleindustrie ist von Weltkriegen, außerirdischen Invasoren und halbnackten Fräuleins besetzt. Die ganze Spieleindustrie? Nein! Ein unbeugsames Entwicklerteam leistet den Eindringligen Widerstand. Beugt sich gegen Kapitalismus und Grafiktrends, beweist Individualität und liefert Spieldesign von vorgestern. Von vorgestern? Tja, wenn vorgestern mit Adventureklassikern wie Day of the Tentacle oder Grim Fandango tituliert wird, muss das nicht unbedingt schlecht sein.



Besonders dann, wenn der Schöpfer oben genannter LucasArts-Perlen die Schirmherrschaft über ebenfalls oben genanntes unbeugsames Entwicklerteam übernimmt, um nach langen viereinhalb Jahren unter dem - erneut ganz, ganz oben genanntem - Namen Psychonauts erneut Spieldesign von vorgestern zu liefern. Doch Psychonauts ist kein Adventure mehr…

Ein ganz (para-)normales Sommercamp

Die Kinder nerven mal wieder rum. Zünden Dinge an, lassen die Nachbarskuh rumfliegen, schleichen sich unsichtbar in die Mädchenumkleidekabine oder sprengen gar fremde Köpfe in die Luft. Alles, was kleine pubertierende Jungs mit parapsychologischen Fähigkeiten so anstellen. Was tun? Wohin mit den Rotzlöffeln? Ins Internat? Zu den Pfadfindern? In die Politik? Nein, dann doch lieber ab ins Whispering Rock Psychic Summer Camp, um den Nachwuchs zum waschechten Psychonauten ausbilden zu lassen!



Denn die wahren Kriege finden IN den Kontrahenten statt, oder - genauer: In deren verquerten Gedankengängen, gewürzt mit Erinnerungen, Alpträumen oder emotionalen Ballast. All das gilt es für den Psychonaut in geheimer Mission zu entqueren, zu öffnen, zu bekämpfen oder zu behandeln. Auch der zehnjährige Zirkusakrobat Razputin würde gerne ein solcher Geheimagent werden, ist jedoch von all dem weit entfernt. Zumindest bis er gegen den Willen seines Vaters vom Zirkus ausbüchst und den Entschluss fasst, im Whispering Rock Psychic Summer Camp seinen Traum in die Wirklichkeit umzusetzen. Von nun an gilt es, Raz per Gamepad oder Tastatur durch seine rund 20 Spielstunden dauernde Ausbildung zum Psychonaut zu lotsen.

Aller Anfang ist leicht

Dass das Ganze kein Honigschlecken ist, wird den Kindern schon zu Beginn von ihrem militanten Coach Oleander eingebläut. Doch was ein echter Psychonaut werden will, lässt sich von solchen Weissagungen nicht abschrecken und widmet sich alsbald dem grundlegenden Training…ähm…Braining: Sämtliche PSI-Rekruten versammeln sich um ihren Trainer, um…in seinen Kopf zu hüpfen! Also geht’s ab in die wirren Gedankengänge eures Coaches, um erste Erfahrungen auf dem mentalen Schlachtfeld zu sammeln. Schlachtfeld ist hier übrigens wörtlich gemeint, da des Coaches Persönlichkeit von kriegerischer Vergangenheit geprägt ist, was sich dementsprechend auf seinen Geiste abfärbt. Hat Raz dieses Basic Braining Tutorial in Coach Oleanders Gedankengängen bestanden, darf er endgültig das gesamte Sommercamp erkunden. Und Entdeckertrieb wird gefördert: Das Finden von PSI-Karten oder Gegenständen in Form einer obligatorischen Schnitzeljagd befördert Raz in seinem Rang als PSI-Kadett. Mit zunehmender Erfahrung erlernt ihr allmählich neue Fähigkeiten wie Unsichtbarkeit, Gedankenschild oder gar Hellsehen, die ihr per fummeligen Auswahlmenü auf drei verfügbare Shortcuts legen und freilich anwenden könnt. Erfreulicherweise sind diese höchst unterschiedlichen Kräfte mehr als nur loses designerisches Beipackwerk, sondern wurden exzellent in das Spiel integriert: Lästige Bretter blockieren das Fortkommen? Keine Sorge, Pyromanie hilft! Ein Knopf hinter einem Eisengitter will gedrückt werden? Auch kein Problem: Telekinese ist hier das passende Stichwort.



Doch zurück zur Itemsammlerei: Da das ganze Sommercamp recht abwechslungsreich designt wurde, verkommt die Tätigkeit des Jäger und Sammlers zu einem durchaus unterhaltsamen Nebenjob. Nur das manche Mal mühsame, aber unumgängliche Aufspüren von Pfeilspitzen (dienen in Psychonauts quasi als „Währung“) zum Erwerb von Gegenständen, die für den weiteren Spielverlauf von Bedeutung sind, trübt den sehr positiven Gesamteindruck dieses Spielaspekts etwas: So kann es durchaus vorkommen, dass ihr die Umgebung einen gewissen Zeitraum ausschließlich nach (wiederkehrenden) Pfeilspitzen abgrast, bis ihr die geforderte Anzahl erreicht habt, um im campinternen Shop endlich einen mentalen „Gedankenspinnennetzsauger“ erwerben zu können. Doch jetzt weg von Itemonauts endlich hin zu Psychonauts! Schließlich dreht sich der Erstling der kalifornischen Firma Double Fine Productions primär nicht um dröges Sammeln irgendwelcher Gegenstände, sondern um das Erkunden bizarrer Szenerien in den Gedankenwelten verschiedenster Charaktere.

Von Milchmännern und Feldherren

Und das, was unsere kalifornischen Freunde da zusammengebastelt haben, sucht in ihren kreativen Ausmaßen derzeit wirklich seinesgleichen. Da gilt es etwa die verquerten (im wahrsten Sinne des Wortes!) Gedankengänge eines Verschwörungstheoretikers in einer sich der Natürlichkeit widersetzenden Siedlung im Stile der 50er Jahre nach einem mysteriösen Milchmann zu durchkämmen oder jemanden in einem gigantischen Brettspiel von Schizophrenie (denkt der doch glatt, er sei Napoleon!) zu heilen oder im oben erwähnten Schlachtfeld das Tutorial zu meistern oder…



Grafisch wurden all diese mentalen Welten übrigens höchst abwechslungsreich aufgebaut. Das ganze Spiel hindurch entsteht optisch das stimmige Gefühl, sich am Set eines Pixar- oder Tim Burton-Streifens zu befinden. Doch auch obwohl Leveldesign und -aufbau dieser mentalen Welten äußerst unterschiedlich geraten sind, haben sie doch einige Dinge gemein: Figmente, Erinnerungen, mentale Spinnennetze, sowie auch emotionalen Ballast. Jedes gesammelte Figment erhöht euren „Figmentzähler“ um eine bestimmte Punktzahl, die wiederum eine Rangbeförderung bewirkt, während Erinnerungen und emotionaler Ballast „nur“ nette Goodies darstellen, welche etwa durch Freischalten von Designkonzepten und -zeichnungen einen Blick hinter die Kulissen der Entwickler gewähren. Mentale Spinnennetze können hingegen nur durch ebenfalls oben genannten mentalen Spinnennetzsauger entfernt und in der Realwelt in PSI-Karten umgetauscht werden. Der ganze Wahnsinn wird selbstverständlich durch eine Story rund um einen gehirneklauenden Zahnarzt (!) zusammengehalten, die wahrlich sehr, sehr, sehr unterhaltsam in Szene gesetzt wurde.

Gottes Werk…

Denn wie von Adventurelegende Tim Schafer gewohnt, werdet ihr auf eurer Reise allerhand skurrilen und vielschichtigen Charakteren begegnen - tummeln sich doch auf einem Sommercamp eine Vielzahl von Mitauszubildenden, die sich charaktermäßig hervorragend an gängige Klischees von Schülern einer Grundschule orientieren: So gibt es auch in Psychonauts den nicht mit allzu großer Intelligenz gesegneten Schlägertypen, erste Liebespärchen, die besserwisserische Streberin, den stillen Außenseiter, den militanten Trainer und vieles mehr. Die Dialoge sind erwartungsgemäß hervorragend gelungen und können jederzeit an die Klasse eines Grim Fandango anknüpfen. So wird man etwa minutenlang allein durch das Belauschen von nichtspielrelevanten Dialogen zwischen Campkollegen bestens unterhalten. Apropos Belauschen: Die Sprecher der amerikanischen Fassung wurden sehr passend besetzt und können das Spielgeschehen in Kombination mit der unaufdringlichen Geräuschkulisse akustisch perfekt untermalen.



Und dank über 4 Jahren Entwicklungszeit präsentiert sich das ganze Spiel auch noch ausgereift und angenehm bugfrei. Damit dieses Review jetzt nicht endgültig zum Werbetext verkommt, wird es zum Ausklang noch eine eklatante Schwäche von Psychonauts präsentieren, die nicht verschwiegen werden soll.

…und Teufels Beitrag

Ähnlich wie in Grim Fandango ist auch die Steuerung von Psychonauts nicht immer wirklich gut gelungen: Das fängt bei den überschachtelten Menüs an, geht über ein im Handbuch nirgends erwähntes Speicherpunktsystem (Speichern und Laden ist zwar jederzeit möglich - Raz wird beim Ladevorgang jedoch an einem programmintern festgesetzten Speicherpunkt zurückgesetzt) und zieht sich bis über die manchmal ungünstig festgelegten Kameraperspektiven durch. So ist vor allem in regelmäßig vorkommenden Bosskämpfen der Blick eures Protagonisten auf euer feindliches Gegenüber fixiert, was die Rundumsicht enorm einschränkt und das Ausweichen oder gar Bekämpfen weiterer Gegner zur reinen Glückssache verkommen lässt.


Doch solche Kinderkrankheiten können den Spaß an Psychonauts kaum mindern. Alles in allem verbleibt ein sehr individuelles Action-Adventure, welches vor allem Freunde des schwarzen Humors und früherer LucasArts-Perlen durchaus ihre Freude bescheren wird.


Wertung
Pro und Kontra
  • Grafik: in sich stimmig, gelungene Animationen
  • Sound: exzellente Sprachausgabe, passende Musikstücke
  • Balance: faires Design, geringe Lernkurve
  • Atmosphäre: In sich stimmig, abgedrehte Charaktere
  • Bedienung: Maus/Tastatur-Kombo gut umgesetzt
  • Umfang: viel zu entdecken, abwechslungsreich
  • Leveldesign: abgedreht und wahnsinnig kreativ!
  • KI: für das Spielkonzept ausreichend
  • Waffen: Gute und abwechslungsreiche PSI-Fähigkeiten
  • Handlung: abwechslungsreich, abgedreht und spannend
  • Grafik: mittlerweile veraltet, Auflösung der Filmsequenzen
  • Sound: nix
  • Balance: Schluss zu schwer, Pfeilspitzensammeln
  • Atmosphäre: nix
  • Bedienung: zeitweise unpräzise, Kamera
  • Umfang: geringer Wiederspielwert
  • Leveldesign: einige Nervpassagen im letzten Level
  • KI: Gegner agieren die meiste Zeit kopflos
  • Waffen: Umständlicher Schnellzugriff
  • Handlung: nix

Zusätzliche Angaben

Schwierigkeitsgrad:

eher leicht

Bugs:

Nein

Spielzeit:

Mehr als 20, weniger als 40 Stunden



Kommentare(1)
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