Offener Serieneinstand

Eines steht fest, die norwegischen Entwickler haben uns Spieler lange Zeit im Regen stehen lassen, denn der Vorgänger Dreamfall: The Longest Journey aus...

von Mr.Blade am: 25.10.2014

Eines steht fest, die norwegischen Entwickler haben uns Spieler lange Zeit im Regen stehen lassen, denn der Vorgänger Dreamfall: The Longest Journey aus dem Jahre 2006 ließ am Ende einige Fragen, neumodisch: Cliffhanger, rund um das Schicksal der Protagnoisten Zoë Maya Castillo und Kian Alvane offen. Dreamfall Chapters öffnet euch 8 Jahre später dank finanziell kräftiger Unterstützung einiger Serienveteranen erneut das Tor zu zwei ebenso einzigartigen wie unterschiedlichen Parallelwelten namens Stark, das stylistisch an waschechten Cyberpunk erinnert und im Jahre 2220 angesiedelt ist, sowie Arcadia, ein an das Mittelalter angehauchte, durch das Azadi-Regiment in Chaos verfallenes Fantasyszenario.

Ohne um den heißen Brei zu reden: Dreamfall Chapters wirft neue Spieler förmlich in einen Epos, der einiges an Struktur, Tiefe und Hintergrund durch die Vorgänger erworben oder gewonnen hat. Wer die Geschichte zumindest im direkten Vorgänger nicht erlebt hat, sollte dies tunlichst nachholen oder sich wenigstens einige Videos zu Gemüte führen. Ich selbst habe Dreamfall: The Longest Journey erst vor einem Jahr durchgespielt und ja, stellenweise fällt es trotz Hintergrundwissen nicht ganz leicht die mit vorhergehenden Ereignissen verknüpften Dialoge gänzlich nachzuvollziehen, ohne die grauen Zellen ein wenig zu bemühen. Ich deklariere mein Erinnerungsvermögen aber als nicht repräsentativ.

Wir alle träumen und sehnen danach. Sogenannte Dreamachines erlauben in der fiktiven Cyberpunk-Welt zu träumen wann immer es beliebt, denn was gibt es auch schöneres als ein beruhigendes Dahindämmern nach einem anstrengenden Arbeitstag, ganz ohne Nebenwirkungen. Ein verheerender Irrglaube, denn jegliche Dreamachines werden zunehmend von Albträumen heimgesucht, die den Träumenden in eine endlose Schleife der Qual schicken, aus derer ein Fliehen aus alleiniger Kraft nicht möglich ist. Obendrein missbraucht die WATI Corporation, die Produzenten der Dreamer, ihre Verwender, denn Träume bergen gute Ideen und kostbare Informationen über die Persönlichkeit. An dieser Stelle kommt die Protagonistin Zoë Castillo zum Einsatz, oder besser gesagt ihre Seele, die zwar Fähigkeiten erlernt hat, in diesem Kosmos aus Träumen, auch Storytime genannt, bewusst zu interagieren, jedoch selbst in der Traumwelt aufgrund einer – mal frei von Spoilern formuliert – Überdosis an Dreamachine gefangen ist.

Atmosphäre top, Rätsel flop!

Nach dem wunderbar inszenierten aber für Spieler ohne Vorwissen aus dieser Welt völlig inhaltsleeren zu scheinenden Prolog steuert ihr Zoës gefangene Seele. Offenbar hat sie es sich zur ähm … Lebensaufgabe gemacht, Menschen aus ihren albtraumbehafteten Traumschleife zu befreien und kundzugeben, niemals wieder einen Dreamer als Freizeitbeschäftigung und aus Langeweile anzuschmeißen. So langweilig wie mein Geschreibsel klingt schlagt ihr euch garantiert durch die ersten paar Rätseleinlagen, die wohl aber vielmehr dazu intendiert sind, den Spieler in die Spielmechaniken einzuführen, denn ein Adventure in einer dreidimensionalen, teilweise freibegehbaren Umgebung mit WASD und Maus sieht man auch nicht alle Tage. Dazu später mehr.

Wer größeren und logischen Knobelanspruch als Voraussetzung oder Kriterium für ein gutes Adventure beansprucht, liegt mit Dreamfall Chapters völlig fehl am Platze, denn die gesamte Serie lebt durchweg von Erzählung, Geschichte und atemberaubender bis düsterer Atmosphäre, ohne sich dabei nicht an ein wenig Humor zu bedienen. Nun habt ihr es zwar nicht mit einem interaktiven Film von Telltale zu tun, ein Myst darf aber niemand erwarten. Beispiel gefällig? Kian Alvane, Protagonist und strittiger Charakter in der Parallelwelt Arcadia, muss während eines Gefänigsausbruches einen Weg nach oben suchen. Ein natürlich verschlossenes Tor ist der vermeintlich richtige Weg, bei der Versuchung dieses mit unserem zuvor improvisierten Dietrich zu knacken, zerbricht das Werkzeug. Den Gang weitergefolgt finde ich einen Besen und ein zerfetztes Kissen. An Spielwitz mangelt es nicht, Kians Kommentare sind beim Betrachten des einfachen Besens im Inventar mit ordentlich Selbstironie der Entwickler bestückt – wie wichtig doch ein einfacher Besen sein kann und welche religiösen Hintergründe dieser birgt. Ob dies im Kontext des Spiels ein wirklich geeignetes Stilmittel ist, ist eine andere Frage, amüsant und auflockernd aber allemal. Nach Trial-and-Error-Manier kombiniere ich die beiden Gegenstände aufgrund Mangel an weiteren Möglichkeiten und erhalte, wer hätte es gedacht, einen Besen mit einem übergestülpten Kissen. Wow. Zuvor habe ich noch ein Fenster entdeckt, aus welchem der gesuchte Kian herausschauen kann und stetig mit verfehlenden Pfeilen beschossen wird. Im Stile von Ankh oder Monkey Island, also genau das zu tun, was den wenigsten Anschein von Erfolg hat, halten wir statt unserem hinauslukenden Kopf den Besen mit Kissen hin. Entsprechend wird nun dieser mit Pfeilen beschossen und wir erhalten einen Pfeil. Tatsächlich eignet sich dieser offenbar als Dietrich, wie die erfolgreiche Verwendung mit dem verschlossenen Tor offenbart. Ein weiterer Rätseltypus sind die aus dem Vorgänger bekannten Gegenstände-Beschaffen-Aufträge, das heißt wir suchen in einem spieloffenen Abschnitt ein oder mehrere Gegenstände zusammen, die häufig mit einigen Dialogen und wieder simplen Denkspielen verknüpft wurden, und bringen sie unserem Auftraggeber. Nicht gerade befriedigend.

Interaktionen und Entscheidungen

„Die Balance ist das Gleichgewicht im Universum zwischen Chaos und Logik. Wenn sowohl Magie und Wissenschaft zusammen existieren, können die Menschen noch nie dagewesene Macht ausüben.“

Mit euren Entscheidungen, die ihr ähnlich wie in Adventures von Telltale während Dialogen treffen könnt, beeinflusst ihr den weiteren Spielverlauf. Das zumindest die Theorie, in diesem Teil bekommt ihr davon noch nicht allzu viel zu sehen. Neben der Einflussnahme auf die zitierten Kräfte, die zwischen den beiden Welten wirken, Chaos und Logik, Magie und Wissenschaft, bestimmen gewählte Dialogoptionen auch das Verhältnis der verschiedenen Charaktere zueinander und haben einen moralischen Hintergrund. Die Umsetzung der Dialogführung ist dabei innovativ. Euch stehen häufig mehrere Schlagwörter zur Auswahl, die von der „inneren Stimme“ des Protagonisten beim Anvisieren via Controller oder Maus stetig kommentiert werden, mit etwaigen Folgen. Ein enges Zeitlimit gibt’s dabei zum Glück nicht.

Erwähenswert ist in diesem Zusammenhang ein Dialog zwischen Kian und dem Gefängniswärter, denn ihr müsst diesen mit geschickter Rhetorik unter Berücksichtigung seiner charakterlichen Merkmale dazu überreden, eine verschlossene Tür zu öffnen. Davon gerne mehr.

Ein ebenwürdiger Einfallsreichtum – oder: Es ist mal ‘was Neues – ist dem Interaktionsmenü zuzusprechen, denn dieses funktioniert vollkommen nahtlos mit Maus als auch mit Controller. Interaktionsmöglichkeiten werden „dreidimensional“ in der Spielwelt hervorgehoben, via Mausklick oder Stick können dann klassische Aktionen wie Betrachten, Sprechen oder Reden aktiviert werden. Die Traum-Zoë verfügt hierbei noch über drei besondere Fähigkeiten, so können die Zeit verlangsamt, die Gedanken eines designierten Charakters gelesen oder eine Art Lichtkegel in einem Träumenden ausgelöst werden, der wohl dunkle Albträume erhellen soll. Die ersten Rätsel suggerieren, dass eine Herausforderung darin bestehen könnte, diese Fähigkeiten durchdacht miteinander zu kombinieren. Leider scheint zumindest gegenwärtig einiges an Potential vergeudet worden zu sein, denn zu keinem Zeitpunkt erhaltet ihr in der ersten Episode überhaupt noch einmal die Möglichkeit, diese Fertigkeiten in Anspruch zu nehmen.

Europolis

Das erste Wow-Erlebnis beschert uns nach dem Prolog der buchstäblich schimmernde Dreh- und Angelpunkt Europolis, die frei begehbare Spielwelt in Stark, in der ihr vermutlich die meisten Aufträge beginnen oder ausführen werdet. Große Dystopie erweckt diese zunächst gar nicht mal, auch wenn gleich zu Beginn Nela, Inhaberin einer Würstchenbude und Freundin von Zoë, eine unbegründete Frist der örtlichen EYE-Wächter gesetzt bekommt, ihren Stand binnen 24 Stunden zu entfernen. Immer mal wieder können wir teils witzige Dialoge, die häufig Trends und gesellschaftliche Normen zu dieser Zeit repräsentieren sollen, belauschen, die Spielwelt wirkt durchweg lebendig, auch wenn schnell auffällt, dass sich viele Charaktermodelle wiederholen. Übrigens: Die Proteste der Bevölkerung gegen die „totalitäre“, internationale Polizei „EYE“ erinneren ungemein an selbige aus Beyond Good & Evil gegen die Alpha-Abteilung. Einen rollenspieltypischen Spielablauf mit Haupt- und Nebenquests oder alternativen Wahlmöglichkeiten solltet ihr aufgrund räumlicher Freiheiten aber nicht in Erwartung stellen, die Storyline verläuft in dieser Episode konsequent linear.

Technik – Ein zweischneidiges Schwert

Storytime, Stark, Arcadia – zumindest eine große Vielfältigkeit was das Grafikdesign anbelangt. Ebenso wirken keinerlei Bestandteile in der jeweiligen Spielwelt von irgendwo her geschmacklos adaptiert, jedes Szenario vermittelt eine individuelle Atmosphäre. Diese vermittelt zuweilen sogar Detailverliebtheit, nur hat Dreamfall offenbar ein großes Problem: Die Unity-Engine. Gerade in größeren Regionen wie Europolis knackt mein Testsystem die 1 FPS. Des Weiteren treten regelmäßig Grafikfehler auf, denn teilweise versinkt das gesamte Spiel hinter völlig überzogenen Gleam- und Bloom-Effekten. Bei näherer Betrachtung fallen auch viele, schmierige Texturen ins Auge, zahlreiche Animationen sind unnatürlich und hätten geradewegs aus dem Vorgänger stammen können.

Grundsätzlich erachte ich hingegen die deutsche Synchronisierung als umso einwandfreier, gerade die Synchronsprecher von Kian und Zoë, wer auch immer das sein mag, vermitteln gekonnt und routiniert derer Charakter. Nur gibt’s auch hier eine kleine Krux: Einige Dialogzeilen scheinen einfach nicht vertont worden zu sein oder wurden dem entsprechenden Text nicht zugewiesen, und das killt derweil die Atmospähre gänzlich. Plötzlich spricht einer der Dialogpartner nicht mehr und wir sind aufs Mitlesen angewesen.

Fazit

 

Es ist gegenwärtig nicht möglich ein Urteil für dieses Spiel zu fällen und dieses auch noch in eine ebenso gerechte Bewertungspunktzahl zu stopfen, denn der Serienauftakt fungiert allenfalls als kleiner Vorgeschmack auf das, was noch kommen mag und bleibt offen. Diese Episode hat es zumindest geschafft, mich als Serienkenner genau dahin zurückzubringen, wo der zweite Teil geendet hat und fährt von da an nach allen Regeln eines klassischen Adventures – in einer dreidimensionalen Spielwelt – seicht, ohne große Überraschungen, fort. Red Thread Games hat es jedoch mit Bravour vermasselt, Serienneulinge in die Welt von The Longest Journey einzugeben und vorausgehende Ereignisse der beiden Vorgänger mit dieser neuen Storyline logisch und ohne Interpretationsspielraum zu verknüpfen. Ein Durchspielen des Vorgängers ist eigentlich Voraussetzung. Dennoch: Ich finde großartig, dieses Adventure nach acht Jahren wieder auf dem Bildschirm zu haben, gerade der erste Teil zählt zu meinen persönlichen Highlights des gesamten Genres, auch wenn ich diese Serie erst relativ spät überhaupt entdeckt habe. Es verbleibt schlicht und einfach eine umso höhere Erwartung an die folgenden Episoden.

Dieser kurze Testbericht ist auch nachzulesen auf meiner Seite replaying.de rund um (Retro-)Spiele. Danke fürs Besuchen! :)


Wertung
Pro und Kontra
  • eingängige Steuerung, sowohl für Maus-Tastatur- als auch Controller-Fans
  • Jede Spielwelt vermittelt eine individuelle, dichte Atmosphäre.
  • ansehliche Grafik
  • frei begehbares Europolis
  • Sehr gute Dialoge mit teils zahlreichen Wahlmöglichkeiten.
  • interessante Protagonisten und Nebencharaktere
  • gute, deutsche Synchronisierung
  • Entscheidungen wirken sich aufs Spielgeschehen aus.
  • sehr schlechte Einführung für Serienneulingen
  • teilweise miserable Performance und einige Bugs
  • Der Serieneinstieg ist völlig offen. Wie geht es weiter?
  • Storyverlauf strikt linear, Rätsel zu simpel

Zusätzliche Angaben

Schwierigkeitsgrad:

eher leicht

Bugs:

Häufiger, unregelmäßig

Spielzeit:

Weniger als 5 Stunden



Kommentare(0)
Kommentar-Regeln von GameStar
Bitte lies unsere Kommentar-Regeln, bevor Du einen Kommentar verfasst.

Nur angemeldete Benutzer können kommentieren und bewerten.