Potential nicht ausgeschöpft...

Um es gleich vorweg zu sagen: ich kann all die 92er, 93er, 94er und sogar 97er-Wertungen, die einem auf dieser Seite ins Gesicht springen, nur bedingt...

von - Gast - am: 28.05.2015

Um es gleich vorweg zu sagen: ich kann all die 92er, 93er, 94er und sogar 97er-Wertungen, die einem auf dieser Seite ins Gesicht springen, nur bedingt nachvollziehen.


Die grundsätzlichen Fakten sind bekannt. Also gleich zur Sache.

Zur Steuerung

Die Steuerung war einer der ausschlaggebenden Gründe für mich, Teil 1 & 2 relativ schnell wieder beiseite zu legen. Und obwohl sich The Wichter 3 in dieser Hinsicht zumindest teilweise verbessert hat, ist es noch immer kein Vergnügen, mit Geralt in den Kampf zu ziehen. Es steuert sich oft hakelig, irgendwie hat man nie das Gefühl, die direkte Kontrolle über den Hexer zu haben. Eingegebene Befehle werden teilweise komplett ignoriert, viele  Reaktionen erfolgen nur zeitversetzt. Vergleichbare Spiele machen das um Welten besser! Ist mir unverständlich, warum es CD Projekt auch im dritten Anlauf nicht gelungen ist, eine vernünftige Steuerung in ihr Vorzeigeprojekt zu implementieren. Schade, denn was nützt einem die schönste Story, wenn man sich alle Nase lang über eine schwammige Steuerung ärgert.

Apropos Story...

Herausragende Story

Hier punktet The Witcher 3 wie kaum ein anderes Spiel. Die Geschichte wird wirklich liebevoll und ungemein detailiert erzählt, und zwar auf ausgesprochen erwachsene Weise. Die Quests (auch die Nebenquests) sind spannend und phantasievoll umgesetzt. Man hat durchweg das Gefühl, dass es "da draußen" immer irgendwas zu erleben gibt. Kompliment, hier hat man sich wirklich Mühe gegeben, den Spieler in eine ebenso lebendige wie düstere Welt eintauchen zu lassen. Alles ist vertont und wurde auf ebenso sinnvolle wie abwechslungsreiche Weise in die Spielewelt integriert und zumindest was die Erzählweise anbelangt realistisch umgesetzt - eine Grundvoraussetzung, um so etwas wie Atmosphäre zu erzeugen. Hier geht der Daumen also ganz klar nach oben.

Pracht & wenig Bugs

Ein kurzes Wort zur Grafik (die mir ausgesprochen gut gefällt) und vorhandenen Bugs. Letztere hielten sich bei mir bislang in Grenzen. Es nervt eigentlich nur, dass NPCs plötzlich wie aus dem Nichts auftauchen (spiele aktuell mit Patch 1.04), aber von so Kleinigkeiten abgesehen, gibt es m.E. nicht viel auszusetzen. Hier und da mal 'ne unsichtbare Wand, insgesamt zwei Abstürze und das ein oder andere frei im Raum schwebende Objekt. Die Diskussionen über ein vermeintliches Grafik-Downgrade im Vorfeld habe ich mitverfolgt, doch da ich meine Grafikkarte vielleicht alle 5 Jahre mal austausche, wären maximale Details ohnehin nicht drin gewesen. Grafikfetischisten mögen mich belächeln, doch für mich sind so Sachen wie Kantenglättung und Partikeldarstellung (unabhängig vom Genre)  von eher untergeordneter Wichtigkeit. Benötige weder Hairworks noch Ambient Occlusion, noch sonstigen Pixel-Schickschnack, um Spaß an einem Spiel zu haben. War mir also Latte, ob frühere Versionen nun 'ne höhere Grafikqualität hatten.

Tatsache ist, dass das Auge in diesem Spiel noch immer ordentlich was geboten bekommt, selbst mit meiner ollen GTX 660. Hier hat man sich meines Erachtens wirklich Mühe gegeben und selbst in Kleinigkeiten viel Herzblut, Zeit und Mühe investiert. Zeit und Mühe, die dann leider an anderer Stelle gefehlt zu haben scheinen.

In medias Res

Womit wir auch schon bei den wirklich wichtigen Dingen angelangt wären.
Ich stelle die Frage mal so: was erwartet man eigentlich von einem Spiel wie The Witcher 3? Nun, zumindest das, was man im Vorhinein versprochen bekommen hat, oder? "Open World" war da zum Beispiel eines der Zauberwörter, das mich neugierig gemacht hat. Die große Freiheit, überall hingehen zu können, spitze! Und das alles in einer riesigen Spielewelt! Um es gleich vorweg zu sagen: die Spielewelt ist riesig. Und sie wirkt durchaus lebendig. Es stört mich auch nicht übermäßig, dass ich nicht jedes Haus betreten kann. Was mich allerdings stört, und zwar gewaltig, ist die Tatsache, dass ich mich in der Theorie zwar halbwegs frei in einer "Open World" bewege, sich das Ganze in der Praxis aber größtenteils linear und statisch anfühlt. Was zum einen daran liegt, dass man praktisch immer und überall an die Hand genommen und von A nach B geführt wird. Abseits der vorgefertigten Quest-Pfade, die einem die Richtung im Spiel indirekt vorgeben, gibt es im Grunde nicht viel zu tun, was das Spiel vorantreiben würde. Der jederzeit zuschaltbare Hexersinn erleichtert einem das Ganze (falls gewünscht) sogar noch deutlich. Obendrein fehlt es an echten Überraschungseffekten. Wie im offiziellen GameStar-Test richtigerweise angemerkt, greift in Skyrim schon mal ein Drache ein Dorf an, und zwar völlig unvorhersehbar, oder ein zufallsgenerierter Kopfgeldjäger lauert einem auf. The Witcher 3 verzichtet leider auf Überraschungseffekte dieser Art.

 

Lange Rede, kurzer Sinn: das Spiel stellt in meinen Augen zu niedrige Ansprüche, und zwar unabhängig davon, auf welcher Schwierigkeitsstufe man es spielt. Simples Beispiel: solange ich auf den Hauptverkehrswegen unterwegs bin, muss ich mir im Grunde um nichts Sorgen machen. Weil mir einfach nichts passieren kann. Wen kümmert's, ob da am Wegesrand gefährliche Unholde lauern, ich gebe einfach Gas und reite völlig problemlos an den Jungs vorbei, ohne auch nur ansatzweise Angst haben zu müssen, dass ich überfallen oder hinter der nächsten Wegbiegung von Verfolgern eingeholt werde. Klar kann ich mich jederzeit selbst dazu entscheiden, vom Pferd zu steigen und die Banditen am Wegesrand platt zu machen. Doch so lange ich selbst nicht aktiv werde, geschieht (mir) nix. Keine bösen Überraschungen, kein Nervenkitzel. Das ist leider unrealistisch und versaut zumindest mir die (ansonsten durchaus gelungene) Atmosphäre, vor allem aber das Gefühl, in einer realistischen Spielewelt unterwegs zu sein. Apropos Realismus: so erwachsen vieles in diesem Spiel auch wirkt, vieles wurde leider unrealistisch gelöst. Es ist beispielsweise Mist, dass ich mal eben ins nächstbeste Haus spazieren kann, um mir dort die Taschen mit allerlei Hausrat zu füllen, und zwar vor den Augen der Anwesenden.  Derartige "Kleinigkeiten" mögen für sich genommen hinnehmbar sein, versauen einem in der Summe aber irgendwann den Spielspaß!


Das eigentliche, viel schwerer wiegendere  Problem von The Witcher 3 ist aber ein anderes. Und nein, damit meine ich nicht das dürftige Skillsystem. Darüber könnte ich sogar hinwegsehen. Doch wenn ich ein Spiel beginne, das sich als Rollenspiel definiert, erwarte ich von diesem Spiel, dass es mich möglichst lange motiviert. Ich kann an dieser Stelle selbstverständlich nur für meine Person sprechen, aber in meinen Augen besteht die größte Motivation in Rollenspielen darin, im Verlaufe des Spiels irgendwelche (möglichst viele) Ziele zu haben, resp. zu erreichen. Dabei genügt es mir nicht, lediglich meinen Char weiterzuentwickeln und Quests zu lösen, ich möchte darüberhinaus gerne das Gefühl haben, dass sowohl die Charakterentwicklung als auch das Lösen von Quests einen echten (längerfristig motivierenden) Sinn haben. Und genau an dieser Stelle versagt The Witcher 3.

 

Ja, die Geschichte wurde spannend und liebevoll in Szene gesetzt. Und ja, dem Auge wird so einiges geboten. Und es ist auch richtig, dass das Questen selbst Laune macht, da man merkt, dass sich kreative Köpfe hinter die Ausgestaltung der Quests geklemmt haben. Und doch fehlt etwas! Mir zumindest. Müsste ich es in einem Wort beschreiben, wäre es wohl das kleine Wörtchen "Herausforderung". Quests um ihrer selbst willen oder der Geschichte willen zu lösen, ist bis zu einem gewissen Punkt durchaus spaßig. Für viele Leute mag das sogar der Sinn eines Rollenspiels sein. Für mich ist er das nicht! Der Punkt ist: völlig egal, was man in einem Rollenspiel auch immer tut, am Ende sollte man irgendwie für seine Spielweise, für die Zeit, die man in das Spiel investiert hat, "belohnt" werden. Anders ausgedrückt: ich tue etwas, weil ich mir davon eigentlich etwas verspreche.

Löse ich beispielsweise eine Quest, erwarte ich, dass das, und zwar über die Bedeutung der jeweiligen Quest hinaus, handfeste Auswirkungen auf das Spiel und damit auch auf meine ureigene Spielweise hat. Das aber setzt voraus, dass entsprechende Features in das Spiel implementiert wurden, die mir das Gefühl geben, dass mein Handeln tatsächlich etwas bewirkt. Und zwar mit allen nur erdenklichen Konsequenzen! Beispiel: ich bekomme eine Quest, in deren Verlauf ich mich dafür entscheide, Person A von Fraktion X das Lebenslicht auszublasen. Tue ich dies, will ich gefälligst von vorneherein davon ausgehen dürfen, dass meine Handlungsweise nicht nur bei Fraktion X eine entsprechende Reaktion auslöst, sondern auch bei Fraktion Y, die sich mit Fraktion X im Zwist befindet. Das zugehörige (leider nicht implementierte) Feature wäre hier ein Rufsystem bei den verschiedenen Fraktionen gewesen, durch das sich mein Char ein gewisses Ansehen und darauf aufbauend Titel, Ränge & Belohnungen der verschiedenen Fraktionen hätte sichern können. Auf diese Weise hätte sich nicht nur die Motivation enorm erhöht, sondern gleichzeitig das Gefühl, tatsächlich in einer Welt unterwegs zu sein, die realistisch auf mein Verhalten reagiert. Wie kann es sein, dass es für meinen Char praktisch keine echten (langfristigen) Konsequenzen hat, wenn ich in meinen Quests ständig gegen eine bestimmte Fraktion arbeite, diese mir aber trotzdem keinen Kopfgeldjäger auf den Hals hetzt oder mir wenigstens den Zutritt zu ihren Siedlungen und Städten verwehrt? Das ist einfach unrealistisch und letztlich demotivierend. Bekäme man von der Gegenfraktion wenigstens eine Anerkennung für seine Taten, erhielte ich ab einem bestimmten Ruf beispielsweise gewisse Privilegien, spezielle Ausrüstung und Titel, wäre das wiederum motivierend, meinen einmal eingeschlagenen Weg konsequent weiterzugehen, statt heute mal hier für Fraktion X einen Auftrag zu übernehmen und morgen für Fraktion Y.


Ich finde das etwas schade. The Witcher 3 hat verdammt viel Potential, doch statt es wirklich auszuschöpfen, verschenkt man große Teile davon, ob nun aus Zeit- oder Kostengründen, oder um das Spiel "mainstreamig" zu halten. Die Story ist abwechslungsreich, die Grafik stimmt, die Quests sind klasse, doch was nützen mir über 100 Stunden theoretischer Spielzeit, wenn mich das Ganze nicht langfristig an den Bildschirm fesselt? Und mal ehrlich: worin besteht die Langzeitmotivation in The Witcher 3? Worin die Herausforderung? Etwa darin, einer vorgegebenen Story zu folgen? Oder darin, die liebevoll gestaltete Spielewelt zu bewundern? Kämpfe gegen allerlei Monster zu führen? In einer Stadt umherlaufen zu können? Sorry, aber echte Rollenspiele bieten einem mehr! Mehr Freiheiten, seinen Char zu entwickeln, mehr Möglichkeiten, seine "Arbeit" durch alle möglichen Arten von Erfolgen (Titel, Punkte, Ränge, Ausrüstung) belohnt zu sehen, vor allem aber mehr Realismus in Form erkennbarer Konsequenzen! Und damit meine ich eben nicht Konsequenzen für die Story (die sich - immerhin ein guter Anfang - aufgrund meiner Entscheidungen ja tatsächlich einstellen, zumindest in einem gewissen Rahmen), sondern wirklich handfeste Konsequenzen für den eigenen Char. Konsequenzen, die zur Folge haben, dass ich mir vor jeder Entscheidung im Spiel 3x überlege, ob ich Fraktion X mal eben ans Bein pinkle, nur um dann später vielleicht als Vogelfreier gejagt oder nicht mehr in die nächste Siedlung gelassen zu werden. DAS wäre für mich echte Motivation und Herausforderung!

 

Verändert sich durch meine Entscheidungen dagegen "nur" der Storyverlauf, ist das zwar einerseits erfreulich, in meinen Augen aber nur eine scheinbare Konsequenz, sozusagen eine inkonsequente Konsequenz, denn was auch immer passiert, ich selbst bin davon als Geralt nicht wirklich auf eine Weise betroffen, die mir echte Sorgenfalten verursacht. Ich passe mich dann halt einfach dem veränderten Storyverlauf an und fertig. Für mich als Spieler sind die Konsequenzen aber nicht wirklich gravierend. Und genau DAS ist inkonsequent...

Fazit


Die Fanboys mögen es mir verzeihen (oder auch nicht), aber das Fazit kann in meinen Augen nur lauten, dass The Witcher 3 dem Hype, der im Vorhinein um das Spiel veranstaltet wurde, letztlich nur bedingt gerecht wird. Die Entwickler haben sich in vielerlei Hinsicht erkennbar Mühe gegeben und mögen daher froh sein, dass Sie, so zumindest die heute bei GameStar veröffentlichte Aussage, "den Mainstream erreicht" haben. Ich für meinen Teil bin über letzteres eher traurig. Denn man hätte mehr aus diesem Spiel machen können! Mit etwas mehr Mut... und vielleicht etwas mehr Zeit und Geld.


Das Fazit der GameStar-Redaktion lautete: »Mitreißender Rollenspiel-Koloss voll großartiger Geschichten, die Schwächen bei Balance und Charakterentwicklung fallen kaum ins Gewicht.«


Dem kann ich mich leider nur bedingt anschließen, denn mitgerissen wird man in The Witcher 3 nur, wenn man seine Ansprüche an echtes Rollenspiel herunterschraubt bzw. akzeptiert, dass man es in Wahrheit mit einem Action-Adventure zu tun hat.


Wertung
Zusätzliche Angaben

Schwierigkeitsgrad:

zu leicht

Bugs:

Nur sehr wenige

Spielzeit:

Mehr als 40, weniger als 100 Stunden



Kommentare(28)
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