Eigentlich müsste ich euch schreiben, wie bescheuert es ist, 500 Euro für 25 Kilo Plastik und Pappe auszugeben. Eigentlich müsste ich Oathsworn als Paradebeispiel für das komplett eskalierte Aufblähen von Crowdfunding-Kampagnen nennen, in denen das Spiel selbst immer mehr zur Nebensache wird. Hauptsache, es hat Dutzende Miniaturen und Hunderte Karten!
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Eigentlich müsste ich komplett davon abraten, so viel Geld für ein Spiel zu bezahlen, dessen Standardvariante ihr auf der Hersteller-Homepage auch für deutlich »günstigere« 175 Euro bekommt.
Eigentlich. Wenn mir Oathsworn nicht gerade die schönsten Spieleabende meines Lebens bescheren würde, auf die ich mich jedes Mal wie ein kleines Kind freue. Wenn es nicht so ein eindrücklicher Beweis wäre, was sich erreichen lässt, wenn man bei der Produktionsqualität keine Kompromisse machen muss. Wenn es nicht so ein verdammt gutes Brettspiel wäre!
Falls ihr also eine nüchterne Brettspiel-Rezension erwartet: Surft weiter, hier gibt es nichts zu lesen! Falls ihr aber verstehen wollt, warum mir dieses Spiel trotz seines horrenden Preises jeden Cent wert ist, dann bleibt bei mir. Denn dazu müsst ihr auch mich verstehen.
Wie funktioniert Oathsworn?
Auf den ersten Blick präsentiert sich Oathsworn als durch und durch klassisches Taktik-Rollenspiel, in dem ihr allein oder kooperativ mit bis zu drei Freunden eine 21 Kapitel umfassende Kampagne absolviert. Je nach Spielweise und Schwierigkeitsgrad dürft ihr dafür rund 65 bis 70 Spielstunden einplanen.
Die düstere Fantasy-Story stellt euch regelmäßig vor harte Entscheidungen, die sich mal mehr, mal weniger spürbar auf den weiteren Verlauf der Geschichte oder die Kämpfe auswirken.
So weit, so bekannt aus anderen nerdigen Crowdfunding-Erfolgen wie Gloomhaven, Tainted Grail oder Too Many Bones.
Oathsworns aus meiner Sicht größte Innovation liegt darin, wie gleichberechtigt es Story und Kämpfe behandelt. Erstere erlebt ihr pro Kapitel rund 60 Minuten lang als eine Art Detektivspiel, bei dem ihr eure Heldengruppe über wunderschön gezeichnete Karten bewegt und mittels Gesprächen sowie Fähigkeitenproben herauszufinden versucht, mit was ihr es zu tun habt.
Keine Spoiler!
Ein Großteil des Reizes von Oathsworn besteht darin, nicht zu wissen, mit was man es zu tun bekommt und die Monster erst direkt vor dem Gefecht aus der entsprechenden Mystery Box zu holen. Deswegen zeigen wir euch auf den Fotos ausschließlich den Boss, den Entwickler Shadowborne Games auch im Trailer und auf der eigenen Website als Beispiel präsentiert.
Je zügiger ihr zum Ziel gelangt, desto besser seid ihr aufs anschließende Gefecht vorbereitet. Die Geschichte wird euch dabei entweder über zwei dicke Ringbücher oder mittels optionaler Begleit-App vermittelt.
Bei den rund 90 bis 120 Minuten dauernden Kämpfen verzichtet Oathsworn komplett aufs Vorgeplänkel und schickt euch direkt in die taktische Auseinandersetzung mit einem Bossmonster, manchmal samt Gefolge.
Die Schlachten absolviert ihr auf einem Hexfeld-Spielbrett, wobei es in erster Linie auf die clevere Positionierung eurer Helden und den gut getimten Einsatz ihrer Karten-Spezialfähigkeiten ankommt. Das fühlt sich ein bisschen wie in Gloomhaven an, weil ihr auch hier Karten auf eure Hand zurückrotieren müsst.
Die Stärke eures Angriffs bestimmt ihr wahlweise mit Würfeln oder Machtkarten. Dabei dürft ihr so viele Würfeln oder Karten einsetzen, wie ihr wollt. Allerdings geht euer Angriff komplett (!) ins Leere, sobald ihr zweimal einen Misserfolg habt. Umgekehrt dürft ihr bei kritischen Erfolgen weitere Würfel werfen oder Karten ziehen. Dieses Spiel mit dem Feuer sorgt in den Schlachten für permanenten Nervenkitzel.
Warum ist Oathsworn so gut?
Auf dem Papier klingt das zwar alles spannend und interessant, aber keinesfalls so revolutionär wie seinerzeit bei einem Gloomhaven, das 2017 mit seinem gigantischen Umfang und der Mischung aus taktischem Dungeon Crawler und Legacy Game die nerdige Brettspiel-Landschaft komplett auf den Kopf gestellt hat.
Wie kann es da sein, dass Oathsworn auf der wichtigsten Community-Website Boardgamegeek bei einem überragenden User-Rating von 9.1 steht? Zum Vergleich: Gloomhaven hat »nur« 8.6, allerdings bei deutlich mehr Bewertungen.
Nach meinen Spielerfahrungen mit Oathsworn liegt sein Geheimnis nicht darin, WAS es macht, sondern WIE es das macht. Nämlich in einer Qualität, wie ich sie in meinen 40 Jahren als Brettspiel-Fan selten erlebt habe.
Was für eine Story! Es liegt ein wenig in der Natur von Brettspielen, dass sie selten gute Geschichten erzählen. Schließlich wollen wir spielen und nicht lesen oder zuhören. Bei Oathsworn kann es meine Runde gar nicht erwarten, wie es weitergeht!
Weil die Story mehr überraschende Haken schlägt als Bugs Bunny. Weil die Dialoge ganz genau wissen, wann es pathetisch werden und wann es von Herzen kommen muss. Weil wir uns mindestens einmal pro Spieleabend ungläubig anschauen, ob das gerade wirklich passiert ist. Und weil wir auch beim Zuhören spielerisch voll investiert bleiben, da jede noch so lapidar klingende Info wichtig für unsere nächste Entscheidung sein kann.
Was für spannende Kämpfe! Oathsworn gelingt ein enorm clever designter Spagat zwischen taktischem Anspruch und Würfelglück-Dramatik. Es fühlt sich einfach so wundervoll episch und mächtig an, eine spektakuläre Kartenkombo aus Fähigkeiten vom Stapel zu lassen. Nur um direkt im Anschluss zu verzweifeln, weil der so perfekt orchestrierte Angriff ins Leere geht.
Umgekehrt konnte ich dank unfassbarem Würfelglück schon so manches Mal dem Tod noch in letzter Sekunde von der Sense hüpfen. Dabei ist Oathsworn derart grandios ausbalanciert, dass sich spektakuläre Erfolge und Fehlschläge stets die Waage halten, so dass letzten Endes doch meine Taktik entscheidet und wie gut ich meinen Helden beherrsche.
Was für eine Abwechslung! Die 21 Kapitel von Oathsworn klingen im Vergleich mit manch anderem Kampagnenklopper nach wenig. Aber zum einen lässt sich das Abenteuer dadurch selbst von einer unregelmäßig spielenden Gruppe in einem vernünftigen Zeitraum absolvieren.
Und zum anderen ist hier jeder Spieleabend wirklich ein signifikant anderes und überraschendes Erlebnis. Jeder Storyabschnitt hat ein anderes Tempo, eine andere Dramatik, einen anderen Twist. Und in nahezu jedem Gefecht bekomme ich es mit einem neuen Feind zu tun, der ein komplett eigenes Fähigkeiten-Repertoire mit sich bringt, das im Partieverlauf sogar noch zunehmend eskaliert.
Was für ein cleveres Design! Oathsworn scheint sich sehr genau angeschaut zu haben, warum andere Kampagnenspiele selten beendet werden, und hat dafür clevere Lösungen gefunden. Dank des festen Bretts und Speicherstand-Säckchen für jeden Helden habt ihr das Spiel in zehn Minuten aufgebaut. Dank des schnellen Levelup-Systems könnt ihr vor jedem Kapitel problemlos zwischen den zwölf Charakteren wechseln, falls ihr mal was anderes ausprobieren wollt.
Dank der vereinfachten, aber trotzdem nicht weniger mächtigen Companion-Variante für jeden Helden könnt ihr Oathsworn auch prima zu zweit erleben oder Freunde mitspielen lassen, die das komplexe Regelwerk eher abschreckt. Und dank der Aufteilung zwischen Story und Gefecht müsst ihr nicht gleich drei bis vier Stunden einplanen, sondern könnt eure Kampagne auch in kürzere Häppchen unterteilen.
Kaum Schwächen! Nein, natürlich ist auch Oathsworn nicht perfekt. Insbesondere die etwas komplizierten Bewegungsregeln für Monster brauchen ein paar Partien Eingewöhnung und das eine oder andere Nachschlagen im Regelbuch. Auch die Entscheidungsfreiheit ist nicht ganz so groß, wie es euch das Spiel manchmal vorgaukelt, weil es in der Regel eben doch auf den Kampf gegen ein mächtiges Monster hinauslaufen muss.
Angesichts der vielen Stärken des Spiels fallen diese Kleinigkeiten aber kaum ins Gewicht. Jedenfalls endete bis jetzt noch jeder Oathsworn-Spieleabend mit leuchtenden Augen und der festen Verabredung, sich möglichst bald wieder zu treffen.
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