Endzeitliche Hass-Liebe

Fallout - Fallout bleibt immer gleich? Nein, nur Bethesda. Fallout 4 hingegen tingelt zwischen echtem Hass und echter Liebe hin und her. Es polarisiert nicht...

von Yeager am: 20.12.2015

Fallout - Fallout bleibt immer gleich?
Nein, nur Bethesda. Fallout 4 hingegen tingelt zwischen echtem Hass und echter Liebe hin und her. Es polarisiert nicht nur die Massen, sondern auch den einzelnen Spieler selbst.

Eine Kurzrezension.
(Ohne Spoiler)


Wir sind in der Vergangenheit, werden hinein geworfen in eine groß anmutende Story mit vagem Ausgang, wir erleben dramatische Momente und ... das war's.
Dann sind auch schon mitten drin, die Dramatik ist vorbei, bevor sich eine Identifikation mit der Hauptfigur hat etablieren können.
So entsteht Unmut beim RPG-Spieler.

Der Hass


Ein Unmut, der auch im weiteren Verlauf unser eigentlicher Begleiter sein wird. Und ein Unmut, der in regelrechtem Hass umschlagen kann. Wenn wir wieder mal beim Siedlungsbau mit der Steuerung kämpfen, wenn unser "schlauer" Begleiter uns wieder einen Molotov-Cocktail an den Kopf geworfen hat, statt auf die wilden Ghule oder uns dank Wegfindungs- und Kollisionsproblemen einfach von einem Hochhaus "schubste", oder unsere Sicht versperrte oder geskriptete Events dazu führen, dass Leichen verschwinden. Natürlich inklusive der zahlreichen Sachen, die wir hinein deponiert haben, weil wir permanent überladen sind.

Wenn wir den Kopf schütteln, jedesmal wenn wir wieder etwas "heraus gefunden" haben, das das Spiel hätte erklären können, ja müssen. Wie zum Beispiel, dass man mit gedrückt gehaltener E-Taste die meisten Positionierungsprobleme beim Bau umgehen kann. Oder dass E gleichbedeutend mit Enter ist, was viele Klickorgien vermieden hätte. Oder dass Quests von Siedlern extrem hohe Priorität haben, da sie scheitern können, weil diese im Gegensatz zu anderen NPCs sterblich sind. Oder dass Crafting-Stationen Schrott von sich aus umwandeln. Oder dass man Siedler ansprechen muss, um Siedlungen miteinander zu verbinden. Wir wundern uns nicht über die zahlreichen Spieler, die in Foren nachfragten, wie man im Skillbaum nach unten scrollt, da dieser nicht auf PageDown und Cursor reagiert, man mit der Maus nach unten gehen muss. Wie lange gibt es schon Scroll-Balken als Element? Ein Tutorial für Doofe braucht niemand, aber ein klitzekleiner Satz darüber, dass der Hund nicht als Begleiter zählt wäre als Randnotiz beim Skill "Einsamer Wanderer" (mehr Tragekapazität und Schadensresistenz, wenn man solo unterwegs ist) doch schon eine tolle Sache gewesen. Oder Symbole für Modifikationen, statt endlosen Präfixen, die aufgrund der konsolenartig knappen Liste nur noch erahnen lassen, um was für eine Waffe es sich hier überhaupt handeln mag (Glücklicherweise kann man sie umbenennen).

Wenn wir uns fragen, ob es wirklich nötig war sowohl Status-Werte, als auch Skills und Perks auf ein und dieselbe Ebene zu stellen. Ob es wirklich nötig war den Begleiter beim Hinabsteigen in grössere Tiefe alle zwei Meter ein und denselben Satz sagen zu lassen: "Hmm, keine Ahnung, wie tief es hier ist - oder was da unten lebt". Beim ersten Mal unterstrich es die Atmosphäre. Beim zweiten Mal nervte es bereits. Beim achtundreissigsten Mal wollten wir ihn deswegen erschiessen! Immerhin bleibt sich Bethesda dabei selbst treu, nicht wahr, "Pfeil-im-Knie"-Typ aus Skyrim?

Momente, in denen wir nur noch "böse" spielen wollen, um uns abzureagieren - was aber sinnlos ist, da auch das Karma-System sämtlicher Vorgänger-Teile abgeschafft wurde. Wozu auch ein Gesinnungssystem in einem Rollenspiel? Weil aus dem Rollenspiel ein halber Shooter wurde ("Danke" an dieser Stelle an id Software für die Beratung), der als solcher aber auch nicht richtig funktioniert. Und Momente, in denen der letzte verbliebene Rückbezug auf die legendären, rundenbasierten ersten Teile - das VATS - nur noch Murks ist. Weil unser Repetiergewehr, das nach jedem Schuss umständlich nachgeladen werden muss, in der Pseudo-Rundenbasierten Zeitlupe mehr Schuss abgeben kann, als unsere Maschinenpistole mit naturgemäß hoher Kadenz. Unsere Bäckerin weiss vermutlich mehr über Waffen, als Bethesda.

Momente, in denen wir die Zähne zusammen beissen und Bethesda fragen wollen: "Ernsthaft? War das nötig? Ging das nicht besser? Fiel das niemandem in der QA auf?" Von schwebenden Hunden, die sich bei der Landung alle Knochen brechen, was aber egal ist, da sie eh unsterblich sind - von einem QuickMenü, das selbst für Konsolenspieler nicht geeignet zu sein scheint, von Waffenmodellen, die locker ein Drittel bis die Hälfte des Screens ausfüllen, von versehentlichen Erschießungen von Händlern, weil die Beschleunigung der Dialoge mit der linken Maustaste, also Feuern, belegt ist - und ebenso versehentlichen sich selbst in die Luft jagen, weil Nahkampf und Granatwurf sich natürlich ebenfalls die selbe Taste teilen müssen - von alledem gar nicht erst zu reden.

Ja, so kann Fallout 4 sein.
Es lädt den Spieler regelrecht dazu ein, es zu hassen.
Dauerhaft und darin sogar sehr verlässlich.

Die Liebe


Und doch ertappen wir uns dabei, wie wir es spielen.
Immer noch. Oder schon wieder. Was sagt die Steam-Zahl da? Hundert Stunden? Wie konnte das geschehen?

Es konnte deswegen geschehen, weil Fallout 4 trotzdem Spaß macht, sogar richtig, richtig viel! Weil es uns erlaubt in eine glaubwürdige Welt abzutauchen, die gar keine Quests mehr braucht, um stimmig genug zu sein in ihrer Atmosphäre. Wenn wir wieder einmal die Landschaft erkunden, nicht wissend, was hinter dem nächsten Baum sein wird. Vielleicht ein verstecktes Rattennest? Vielleicht ein Händler? Ein legendärer Gegner mit einer Waffe, die zwei, statt einem Projektil verschiesst oder Giftschaden macht oder eine Chance hat unsere Aktionspunkte im VATS spontan wieder komplett aufzuladen? Die wir dann per umfassenden, sehr motivierenden Crafting nach unserem Geschmack pimpen können. Mit denen wir mittels VATS kritische Treffer bei voll aufgeladener Leiste erzwingen können, was inkl. Zeitlupen-Animation des fliegenden Projektils / Strahls jedes Mal überaus befriedigend ist.

Wenn wir wieder einmal nachschauen müssen, ob wir da wirklich eine Mischung aus Endzeit-RPG und taktischem Shooter spielen - und nicht doch eher MineCraft oder SIMS oder Sim City - und das im positiven Sinne, weil das Bauen fast soviel Spaß macht, wie der Rest des Spiels, wenn man einmal den Dreh raus hat. Wenn wir wieder mal zusammen zuckten und eine Schaufensterpuppe erschossen haben, da die Licht- und Schattenspiele gekonnt umgesetzt sind. Oder sich unsere Nackenhaare aufstellen, da die Animationen der wilden Ghule identisch mit den Bewegungen der Zombies aus "I am Legend" mit Will Smith sind - aggressiv und unkontrolliert. Wenn wir es schafften uns an einen Gegner in einer PowerArmor heran zu schleichen und ihm die Fusionsbatterie einfach stiebitzten, wodurch sein Kampfvehikel nutzlos wird, er selbiges verlässt und schnell Geschichte ist. Und wir mit seiner Rüstung erstmal diese verrückten Prediger da eliminieren - oder bei den Supermutanten aufräumen. Oder Gunnern. Oder, oder, oder.

Oder wenn wir einfach nur auf dem Balkon des höchsten Gebäudes einer unserer zahlreichen Siedlungen in einem alten, zerfledderten Ohrensessel sitzen - und den Sonnenuntergang geniessen. In einer kaputten und gleichzeitig irgendwie heilen Welt. Weil es unsere ist, weil wir nicht einfach nur eine Figur am Rande sind, sondern jemand, der diese Welt verändern kann - und darf.

Fantastische Momente sind das!
Momente, in denen wir uns zurücklehnen und uns eine wohl verdiente Zigarre anzünden wollen. Und Momente, in denen man Fallout 4 wieder hasst - weil wir weder die Zigarre, noch das vergoldete Feuerzeug dafür nutzen können, die vor uns auf dem Tisch liegen. :)

Das Fazit


Fallout 4 kann man hassen oder lieben.
Nicht selten und widerspruchsfrei sogar beides zugleich. Es polarisiert also nicht nur die Massen, es kann auch den Spieler selbst "entzweien" in seiner Meinung darüber. Man kann sich diesem Spiel aber kaum mehr entziehen, wenn man es einmal begann. Ich wüsste nicht, wie das gehen soll, denn dafür ist es zu sehr eine atmende Welt, ein Sandkasten, der nur darauf wartet, was ich in ihm oder mit ihm anstellen werde. Nein, es ist definitiv nicht DAS Hyper-Spiel, das viele sich davon erhofft oder erwartet haben. Trotzdem macht es Spaß - und ärgert einen, denn man muss zwangsläufig daran denken, wie viel besser es hätte werden können, alleine wenn es weniger Schwachstellen besäße. Ganz, ganz leicht wäre eine Wertung im 90er Bereich drin gewesen! Vielleicht beim nächsten Mal.

Doch genug geschrieben, da ist noch ein Vault, den ich entdeckt habe. Will unbedingt sehen, was ich darin vorfinde. Ausserdem wollte ich noch einen Raketenturm in meiner Festung bauen. Und da wäre noch der freie Skillpunkt. Will endlich wissen, wie sich das auswirkt, wenn mein Hund die Gegner festhält. Und... - Wie gesagt, ich hab noch viel vor, also entschuldigt mich bitte!

 

Kurzfazit:

» Für RPG-Spieler und Fallout-Fans, die anderthalb Augen zudrücken wollen, um dafür doppelt so viel Spaß zu haben. Trotz zahlreicher Schwächen und Bugs ist es neben The Witcher 3 ein klarer Anwärter für das Rollenspiel des Jahres. «

 

ASSA:

 


 

Was ist ASSA?

 


Wertung
Pro und Kontra
  • Glaubwürdige Welt, die zum Erkunden einlädt
  • Ausgezeichnete Atmosphäre & Environmental Storytelling
  • Schöne Licht- und Schatteneffekte
  • Stellenweise regelrechter Grusel (Mannequins...^^)
  • OpenWorld & SandBox
  • Motivierendes Crafting-System
  • MineCraft-Modus
  • Viele Skills & Perks
  • Zahllose Waffen und -modifikationen
  • Fast jedes Item nützlich
  • Umfassende Charaktergenerierung (optisch)
  • Trefferzonen
  • Spezifische Schwachstellen bei Gegnern
  • PowerArmor ist keine gewöhnliche Rüstung mehr, eher ein Vehikel
  • PowerArmor ist nicht überstark / verbraucht teure Fusionsenergie
  • Viele gesellschaftskritische Anspielungen auf Vergangenheit und Gegenwart
  • Strahlung vermindert nun maximale HP und stellt damit eine höhere Gefahr da, als in Vorgängern
  • Fängt den Geist der früheren Fallouts besser ein, als New Vegas
  • Skyrim in der (dystopischen) Zukunft-Feeling
  • Sprechender Protagonist
  • Solide Übersetzung / gute Sprecher
  • Lange Spielzeit (> 100 h)
  • gewöhnungsbedürftige, konsolenartige Menüs
  • VATS zu sehr abgeschwächt, zu hoher Shooter-Fokus
  • Nicht nachvollziehbare Aktionspunkte im VATS (entspricht nicht der Feuerrate einer Waffe)
  • Story Bethesda-like gewohnt schwach (inszeniert)
  • Storybeginn dramatisch...aber zu schnell vorbei: Kaum Immersion / Identifikation
  • Waffen-Quick-Menü kreuzartig an Konsole angepasst, nicht intuitiv für PC
  • Keine Schnellwahl von Waffen durch Mausrad möglich
  • Kein Karma-System mehr (negative Handlungen ohne langfr. Konsequenzen)
  • Zahlreiche Bugs
  • Vieles nicht offensichtlich / erklärt im Game, häufiges Trial & Error nötig
  • Waffen-Prä- und Suffixe passen nicht in Liste (Unklarheit, um was für eine Waffenart es sich überhaupt handelt)
  • Stats, Skills & Perks sind auf derselben Ebene zusammen gefasst
  • Dialog-Auswahlrad = keine gute Idee
  • gesprochener Dialog entspricht manchmal nicht den Erwartungen
  • Dialoge wiederholen sich zu oft (besonders Kommentare der Begleiter)
  • Welt hätte etwas grösser ausfallen können
  • Begleiter-KI verbarrikadiert Spieler häufig (nicht schlimm, aber nervig)
  • AoE-Waffen in Begleiter-KI-Händen führen häufig zu Friendly Fire (lässt sich mit Perk umgehen)
  • geskriptete Events können zum Verlust von Equipment führen (Leichen verschwinden in einigen Fällen)
  • Farbe der PipBoy-Taschenlampe nicht separat einstellbar, abh. v. PipBoy-RGB-Wahl
  • Häufige Wiederholungen generell einfallsloser Quests
  • MineCraft-Modus nur scheinbar optional: Ohne diesen Verzicht auf zu viele XP

Zusätzliche Angaben

Schwierigkeitsgrad:

genau richtig

Bugs:

Oft, regelmäßig

Spielzeit:

Mehr als 100 Stunden



Kommentare(2)
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