The Witcher 3 - Ein gut gemeinter Verriss

Ich habe es endlich geschafft. Ich habe The Witcher 3 und beide Addons durch. Ich hatte die Basisversion ohne Addons damals zum Release auf Steam gekauft und...

von Nick2000 am: 27.12.2016

Ich habe es endlich geschafft. Ich habe The Witcher 3 und beide Addons durch. Ich hatte die Basisversion ohne Addons damals zum Release auf Steam gekauft und angefangen zu spielen, mich dann aber in der Fragezeichen-Abklapper-Spirale verrannt und ziemlich schnell die Lust verloren. Da man aber allerorten Lobpreisungen über das Spiel vernimmt, habe ich mir günstig die GOTY-Edition geholt und gedacht: "Probier's nochmal!".

Ich hatte aber nur geringe Erwartungen, weil ich ja schon einen Versuch abgebrochen hatte.  Und ich war auch beim zweiten Durchlauf ein paar mal kurz davor, das Spiel in die Ecke zu pfeffern. Das lag zum Einen an meiner persönlichen Einstellung zu Rollenspielen. Ich finde, gute Rollenspiele müssen in zwei Disziplinen brillieren und dem Hexer gelingt das leider nur in einer der beiden. Zum Anderen finde ich die Ubisoft-Formel, die zum Teil auch in The Witcher 3 zur Anwendung kommt, einfach nur zum Kotzen. Warum habe ich es dann diesmal durchgespielt? Bevor ich zu diesem Punkt komme, will ich kurz umreißen, was The Witcher 3 aus meiner Sicht falsch macht.

Die Ubisoft-Formel

The Witcher 3 bedient sich teilweise an der berühmt-berüchtigten Ubisoft-Formel (bekannt aus Assassins Creed und Farcry, in Ansätzen auch von anderen Firmen kopiert, zB in DA:I). Nach dieser Formel muss der Spieler bestimmte Orte (meist irgendwelche Türme) aufsuchen, dortige Feinde erledigen und dann auf den Turm klettern, um neue Nebenaufgaben, Schätze oder sonstige Sammelobjekte freizuschalten. Nach der Freischaltung ploppen dann auf der Karte unzählige Spots im größeren Umkreis des jeweiligen Turms auf, die der Spieler dann abklappern kann. Da gibt es mal Schätze und mal kleinere Nebenaufgaben, die alle gemeinsam haben, dass sie mit der eigentlichen Story des Spiels nichts zu tun haben. Aus meiner Sicht gibt es diese Formel nur aus zwei Gründen: künstliche Verlängerung der Spielzeit und Befriedigung unseres Ur-Sammeltriebs. Viele mögen das scheinbar aber und grasen jede Location mit Freude ab. Ich kann damit nichts anfangen.

Beim Hexer wurde die Formel etwas vereinfacht. Man muss keine Türme freikämpfen sondern zu auf der Welt verteilten Anschlagbrettern laufen. Danach ist aber alles dasselbe: Es ploppen auf der Karte Fragezeichen auf, die mal Schätze, mal Monsternester (reine Kämpfe) und mal Orte der Macht (geben einmalig Punkte zum Weiterentwickeln von Skills) zum Gegenstand haben. Will man alle Locations besuchen, artet das in Arbeit aus. Es sind wirklich viele und die Laufwege sind (selbst mit Pferd) lang. Es ist aber nicht so, dass man diese Punkte unbedingt anklappern müsste, denn sie sind völlig optional und für die anspruchslosen Kämpfe des Spiels reicht es ansonsten auch aus, wenn man nur die separaten Schatzsuche-Missionen erledigt, um die dadurch erlangten Rezepte für die Hexerausrüstung zu craften. Dann kann man die Fragezeichen links liegen lassen, da der Charakter im Wesentlichen über seine Ausrüstung und weniger über Levelaufstiege verbessert wird. Obwohl das alles also optional ist, habe ich aber immer ein wenig das Gefühl, ich verpasse was, wenn ich nicht alles abklapper. Und daher mache ich es dann doch, habe dabei aber nur wenig bis gar keinen Spaß. Und danach ärgere ich mich über mich selbst, weil ich die Fragezeichen nicht einfach Fragezeichen sein lassen kann.

Durch diese verdammte Ubisoft-Formel entfällt auch ein weiterer Aspekt guter Openworld-Rollenspiele: Belohnung für Erkundung. Denn es ist ja keine Erkundung mehr erforderlich, wenn man gleich alles angezeigt bekommt. Und richtig belohnend ist es auch nicht, wenn man schon vorher weiß, dass es da eine Belohnung geben wird. Das tolle Gefühl, abseits der Straße im tiefen Wald eine Turmruine mit Schatztruhe zu finden, nur weil man den Mut hatte, die Straße auf gut Glück zu verlassen; dieses Gefühl, das man früher z.B. in der Gothic-Serie hatte, kam bei mir in The Witcher 3 oder anderen Titeln mit Ubisoft-Formel nie auf.

Die Charakterprogression

Einer der beiden wichtigsten Aspekte bei Rollenspielen ist für mich die Charakterprogression. Und genau da schwächelt der Hexer extrem. Die Charakterentwicklung ist extrem vereinfacht und ihre Auswirkungen sind kaum spürbar. Denn The Witcher 3 ist leicht. Sehr leicht. Ich habe auf normalem Schwierigkeitsgrad ("Das Schwert und die Geschichte") angefangen und dann nach kurzer Zeit eine Stufe höher geschaltet und dabei nie Probleme gehabt. Den höchsten Schwierigkeitsgrad habe nur deswegen nicht genommen, weil er nur noch ein paar dps mehr und Gesundheit für Gegner draufgelegt hat, ohne das Spiel sonstwie fordernder zu machen. Auf dem höchsten Schwierigkeitsgrad braucht man halt nur zusätzlich Alchemie. Darauf hatte ich aber keine Lust (vor jedem Kampf Öle und Tränke im etwas umständlichen UI einzustellen fand ich nervig).

Der geringe Schwierigkeitsgrad rührt wohl daher, dass sich der Hexer im Laufe des Spiels kaum entwickelt. Die Charakterprogression findet eigentlich nur über Ausrüstung statt. Zwar gibt es auch ein Skill-System mit auflevelbaren Fähigkeiten, man merkt bei Geralt aber kaum eine Verbesserung. Ich habe einmal 7 Level/Orte der Macht lang vergessen, meine Fähigkeitspunkte zu verteilen und dann alle 7 Punkte auf einmal und nur in die Verbesserung der schnellen Angriffe investiert. Es war danach trotzdem keine wesentliche Verbesserung in Kämpfen spürbar. In meinen Augen ist es eine Designer-Todsünde, wenn das Charaktersystem eines Rollenspiels beinahe ohne Auswirkungen bleibt. In Ansätzen spürbar war nur die Verbesserung der Ausrüstung. Das aber auch nur, weil ich nur Hexerausrüstung benutzt habe und es dementsprechend wegen der Stufenanforderungen auch immer 5-6 Level dauerte, bis ich neue Schwerter ausrüsten konnte.

Die Charakterprogression ist also sehr simpel. Für mich ist daher ein wesentlicher Aspekt eines Rollenspiels nicht verwirklicht. Wenn sich der eigene Charakter im Verlauf eines Spiels nicht merklich verbessert, ist es eigentlich kein Rollenspiel mehr.

Es gibt noch einige kleinere Punkte, die ich am Hexer kritisieren könnte (z.B. das simple Kampfsystem oder das aufgrund zu vieler unterschiedlicher Ressourcen total überladene Crafting-/Alchemiesystem oder die eher generische Welt, in der sich alle Dörfer extrem ähneln). Auch gebe es noch vieles zu loben (z.B. die sehr gute Grafik und der auch ohne "Fragezeichen" erhebliche Umfang), aber ich will jetzt doch dazu kommen, warum ich das Spiel wirklich durchgespielt und mich dabei bestens unterhalten gefühlt habe.

Die Inszenierung/Story (mit kleineren Spoilern)

So sehr ich mich auch über das bescheidene Gameplay geärgert habe, so war ich doch schlichtweg begeistert von der Story und ihrer Präsentation. Die Story ist für mich der zweite wesentliche Aspekt bei einem Rollenspiel. Und bei The Witcher 3 war es die Story, die mich bei der Stange gehalten hat. Ich habe mit Geralt herzhaft gelacht (was mir in Spielen nur selten passiert) und ich habe einmal sogar ein Tränchen verdrückt (was mir zuvor nur bei Life is Strange passiert ist). Ich gehe so weit zu sagen, dass The Witcher 3 die beste Story hat, die ich je in einem Computerspiel erlebt habe (mit Ausnahme des Endes und obwohl ich Planescape: Torment gespielt habe).

Das liegt an den ausnahmslos gut geschriebenen Charakteren, an den Geschichten selbst und an der Vertonung/Inszenierung.

Fangen wir mal mit der Inszenierung an. In den meisten Gesprächen stehen die Akteure nicht einfach nur rum und sprechen miteinander sondern sie bewegen sich, lehnen sich z.B. an eine Wand oder knien sich hin oder untersuchen etwas, begrüßen oder umarmen sich usw. Im Vergleich dazu sind die Gespräche in vielen anderen Spielen (z.B. DA:I) einfach total statisch.

Auch die Vertonung ist erstklassig. Die deutschen Sprecher der Hauptpersonen und der meisten Nebenpersonen machen einen fantastischen Job. Oft hört man gerade in deutschen Versionen Betonungsfehler oder mit unpassender Emotion gesprochene Texte, weil die Sprecher offenbar den näheren Kontext der jeweiligen Unterhaltung nicht kennen. Das gibt's beim Hexer nicht, alles passt. Selbst wenn eine Person eine andere unterbricht (womit viele Spiele ein Problem haben, es entsteht oft eine unpassende Pause), kommt das glaubhaft rüber. Dazu kommen jeweils passende Effekte, wie z.B. ein Halleffekt in einer Höhle/Halle. Auch außerhalb der eigentlichen Gespräche ist The Witcher 3 vorbildlich: Hat man beim Spielen von Skyrim z.B. den Eindruck, dass ausnahmslos jede Wache irgendwann in ihrem Leben einen Pfeil ins Knie bekommen hat, sind die der Untermauerung der Atmosphäre dienenden Zufallsaussagen von Passanten beim Witcher deutlich vielfältiger und abwechslungsreicher. Natürlich gibt es auch hier Wiederholungen, aber doch deutlich seltener als in anderen Spielen. Das macht die Welt glaubwürdiger.

Glaubwürdig werden auch die meisten Haupt- und Nebencharaktere dargestellt. Es gelingt den Entwicklern dabei erfrischend häufig, Klischees zu vermeiden. Die wenigsten Charaktere sind nur gut oder nur böse. Ihre Motive sind stets nachvollziehbar und ich habe oft länger über die Entscheidung, ob und ggfs. wie ich ihnen helfe oder nicht, nachgedacht. Die Alternativen hatten fast immer ihr Für und Wider. Ich habe immer noch ein schlechtes Gewissen, weil ich den Brandstifter in Weißgarten verpfiffen habe. Hätte ich geahnt, dass er gleich am nächsten Baum aufgeknüpft wird, hätte ich es wohl gelassen. Das werde ich jedenfalls, falls ich The Witcher 3 nochmal spielen sollte (was ich mir gut vorstellen kann).

Selbst die beiden Frauen in Geralts Leben (Triss und Yennefer) sind diesmal deutlich besser geschrieben. Der Witcher ist zwar immer noch ein Weiberheld, aber es wird ihm nicht mehr so einfach gemacht wie in früheren Teilen. Und es klappt auch nicht, mit beiden in den Sonnenaufgang zu reiten, wie ich schmerzlich erfahren musste. Und die Liebschaften haben auch immer wieder Konsequenzen. Zum Teil wird sogar der Hexer ausgenutzt (danke Keira Metz).

Was mich auch sehr beeindruckt hat: Es gibt in den Geschichten immer mal wieder Erzählstränge, die nicht für die Story an sich, aber für das Verhältnis der Charaktere zueinander wichtig sind. Zum Beispiel gibt es im Rahmen der Hauptquest einen Saufabend der Hexerkollegen in der Burg Kaer Morhen. Sowas kann schnell mal ins peinliche abgleiten (mit Haudrauf-Collegehumor), wurde beim Witcher aber echt gut gelöst. Der Abend hätte so in etwa auch in meinem Freundeskreis ablaufen können. Danach fand ich Lambert sogar wieder etwas sympathischer. Gut gefallen haben mir auch die emotionalen Zusammentreffen zwischen Ciri und Geralt. Das wirkte nie aufgesetzt sondern haben echt viel für das Verständnis des Verhältnisses zwischen den beiden beigetragen (gerade für mich, denn ich habe die Bücher nie gelesen).

Wo viel Licht ist, ist aber auch Schatten: Die Geschichten der Hexeraufträge sind im Vergleich zu den Haupt- und Nebenquests meistens eher belanglos. Auch da werden nette kleine Geschichten erzählt, aber die sind nur RPG-Standard. Das liegt natürlich auch an ihrer Kürze. Nach drei einleitenden Sätzen vom Auftraggeber (Person X ist verschwunden/wurde getötet, bestimmt ist ein böses Monster schuld) und der folgenden Ermittlungsphase (Zeugen befragen, Hexersinne nutzen) kommt auch sofort der Bosskampf. Da ist nicht viel Zeit für ne gute Geschichte.

Trotzdem bleibe ich natürlich dabei: Wegen der herausragenden Story und der tollen Inszenierung/Vertonung kann ich dieses Spiel jedem empfehlen, der Wert auf eine gute Geschichte legt. The Witcher ist halt nur kein "richtiges Rollenspiel", Action-Adventure mit Rollenspiel-Elementen trifft es meines Erachtens am besten (was ja nicht negativ ist). Wenn das Gameplay nicht doch einiges zu wünschen übrig lassen würde, würde ich die 90er Wertung des GS für angemessen halten. Da ich aber The Witcher 3 ohne die packende Story mit Sicherheit wieder irgendwann abgebrochen hätte, kriegt es von mir insgesamt nur 80 Spielspasspunkte. Trotzdem eine klare Empfehlung.

Wo ich das Tränchen verdrückt habe, wollt ihr noch wissen? Spoiler-Alarm!

 

 

 

 

Am Ende der Hauptquest: Als Ciri sich entschließt, nach dem Ende der Wilden Jagd auch noch der weißen Kälte ein Ende zu setzen und sich dem Schneesturm entgegen stellt, spielen sich vor ihrem geistigen Auge in Form von Flashbacks noch einmal die schönsten Momente mit ihrem Ziehvater Geralt, also mit MIR, ab. Ich wusste in diesem Moment einfach, dass Ciri ihr Leben opfern würde und da kam dann das Tränchen (ich bin aber auch ein Weichei und habe auch am Ende von Titanic geheult, nicht als Leo gestorben ist sondern in der Schlusssequenz wenn die Titanic wieder heile wird und Rose an der Uhr auf ihn wartet). Um so ärgerlicher war dann das tatsächliche Ende. Ich lag falsch, Ciri stirbt gar nicht. Ohne weitere Erklärung (wie hat sie die weiße Kälte besiegt?) geht Geralt nach einer Einblendung "ein paar Monate später" mit Ciri wieder auf die Jagd und sie offenbahrt ihm, dass sie Kaiserin werden will. Das passte irgendwie nicht zusammen. Was für eine vertane Chance. Es wäre ein verdammt starkes Ende gewesen, wenn Ciri tatsächlich gestorben wäre.

Trotzdem - wie gesagt- insgesamt die beste Geschichte in einem Computerspiel EVER. Ich hoffe, dass CD-Project die Story bei Cyberpunk ebenso in den Vordergrund stellen, aber beim Gameplay noch ne Schippe drauflegen wird. Und so ganz aufgegeben habe ich auch die Hoffnung auf einen vierten Teil nicht. Ich würde wirklich gerne noch mehr Zeit mit Geralt und Ciri verbringen.


Wertung
Zusätzliche Angaben

Schwierigkeitsgrad:

eher leicht

Bugs:

Nur sehr wenige

Spielzeit:

Mehr als 100 Stunden



Kommentare(5)
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