Wer Open-World-Spiele zu eng sieht, verpasst das Beste daran

Ist das noch eine Open World? Kaum etwas dürfte beim Ranking der besten Open-World-Spiele so heiß diskutiert werden. Dabei wird in der Debatte für Heiko etwas Entscheidendes vernachlässigt.

Wir schreiben das Jahr 1990: Deutschland ist gerade Fußball-Weltmeister geworden und steckt mitten in der Wiedervereinigung, aber einen zwölfjährigen Steppke namens Heiko interessiert das nicht die Bohne. Denn er ist zum ersten Mal mit Haut und Haar in einer Open World versunken, und zwar in der von Ultima 6: The False Prophet.

Das Absurde an der Sache: Der zwölfjährige Steppke namens Heiko hatte eigentlich nicht die leiseste Ahnung, was er in dem Spiel eigentlich tun sollte. Denn das in Ultima 6 verwendete Altenglisch mit Sätzen wie »Thou dost see a potion of mead!« war mild überfordernd für jemanden, der sich in der Schule noch auf »Colin likes breakfast«-Niveau befand.

Aber wisst ihr was? Das war mir damals sowas von schnuppe! Genauso wie die minutenlangen Ladezeiten meines C64 oder das ständige Wechseln der sechs Disketten. Ohne einen Plan von meiner Mission und ohne wirklich zu verstehen, was mir das Spiel erzählte, erkundete ich mit großen Kinderaugen eine fantastische Welt, die nur mir allein gehörte.

Der Autor

Kleiner Spoiler: GameStar-Chefredakteur Heiko hat über zwei Drittel unserer Top 100 Open-World-Spiele selbst erlebt, mehr als 30 davon sogar komplett durchgespielt. Das liegt ein wenig in der Natur der Sache, weil Action-Adventures und Rollenspiele neben der Strategie zu seinen Lieblings-Genres zählen. Teilweise führt das zu einer absurden Hassliebe, weil er in einem Assassin's Creed selbst am hundertsten Fragezeichen nicht vorbeilaufen kann - auch wenn ihm das Icon-Abklappern eigentlich keinen Spaß macht. Aber am Ende gewinnt dann doch dieses nagende Gefühl, dass da etwas noch nicht abgehakt wurde. Deutlich besser in Erinnerung behält er allerdings die Spiele, die ihn mit anderen Methoden zum Erforschen motivieren.

Was wir diskutiert haben

Ich musste immer wieder an diese wunderschöne Kindheitserinnerung zurückdenken, als wir in der Redaktion durchaus hitzig darüber debattierten, welche Titel wir für unser Ranking der 100 besten Open-World-Spiele zulassen und welche nicht.

Auch eine Umfrage zur Auslegung des Begriffs Open World brachte ein zumindest für mich erstaunlich kompromissloses Ergebnis.

Demnach dürfte man nicht mal The Witcher 3 als Open World bezeichnen, weil man dort eben nicht jeden Berg und jedes Haus sehen und erreichen kann - dort sind sowohl die Skellige-Inseln als auch andere kleinere Bereiche vom Rest der Welt getrennt. Auch die Open-World-Hoffnungsträger für 2021 denken hier durchaus flexibler:

Open World 2021 - Die 8 interessantesten Spiele mit offener Spielwelt Video starten 10:54 Open World 2021 - Die 8 interessantesten Spiele mit offener Spielwelt

Über The Witcher 3 waren wir uns im Team zwar einig (Ja zu Open World!), bei anderen Titeln sah es aber schon deutlich kontroverser aus:

  • Was ist mit Online-Rollenspielen wie World of Warcraft?
  • Wie behandeln wir Spiele, die ihre Open World immer wieder mit linearen Abschnitten wechseln - etwa ein Assassin's Creed 2?
  • Wo ziehen wir die Grenzen bei Hub-Rollenspielen wie Baldur's Gate, Drakensang oder Dragon Age, die sich sogar innerhalb der Serien in Sachen Open-World-Gefühl signifikant voneinander unterscheiden?
  • Was machen wir mit Action-Adventures, die ihre Welten in mehrere mehr oder weniger große Einzelteile zerlegen - zum Beispiel Borderlands 2 oder Mittelerde: Schatten des Krieges?
  • Und gehören eigentlich auch Metroidvanias wie Hollow Knight oder Ori dazu, die theoretisch eine zusammenhängende Welt haben, diese uns aber erst nach und nach eröffnen?

Je mehr wir darüber debattierten, desto mehr verzettelten wir uns in Detaildiskussionen - etwa ab welcher Größe ein Hub als Open World wahrgenommen wird.

Natürlich habe auch ich mich leidenschaftlich an diesen Diskussionen beteiligt, dazu liebe ich Open-World-Spiele einfach viel zu sehr. Gleichzeitig schoss mir aber immer wieder durch den Kopf, dass mir 1990 der Begriff »Open World« noch vollkommen unbekannt war. Eine Open World lässt sich unfassbar schwer definieren. Aber sie lässt sich fühlen. Idealerweise so, wie ich mich bei Ultima 6 gefühlt habe.

Was Baldur's Gate besser macht als Assassin's Creed

Gute Open-World-Spiele wecken in mir die gleiche kindliche Neugierde, wie ich sie damals bei meinen ersten Schritten in Britannia verspürt habe. Es geht um die pure Lust am Erkunden und Entdecken, um den Weg als Ziel.

Und für mich geht dieses Gefühl kurioserweise umso stärker zurück, je mehr wir uns der harten Open-World-Auslegung nähern, wie sie insbesondere Ubisoft und Rockstar in den letzten Jahren als Standard etabliert haben. Etwas über das sich vortrefflich streiten lässt, selbstverständlich auch im GameStar-Podcast:

Da mögen das antike Griechenland oder der Wilde Westen noch so gigantisch sein und wunderschön aussehen, viel zu oft erkunde ich nicht im eigentlichen Wortsinn, sondern klappere lediglich mit wachsender Routine die Fragezeichen auf einer Karte ab und folge einer sorgfältig orchestrierten Story-Schnitzeljagd.

Ein Baldur's Gate hat seine Welt zwar in Hubs unterteilt und war in diesem technischen Kontext deutlich weniger open worldig als ein Assassin's Creed: Odyssey oder Red Dead Redemption 2, trotzdem habe ich es seinerzeit mit weitaus größerer Faszination erforscht. Eben weil ich nicht wusste, was mich hinter der nächsten Ecke erwartet. Dafür brauchte es keine Questmarker-Führung, sondern nur meine eigene Neugierde.

Ein wenig kommt es mir vor, als würden uns viele Open-World-Spiele mit Scheuklappen durch ihre Welten jagen und sich damit selbst einem Großteil ihrer Faszination berauben. Kollegin Elena hat ein paar wunderbare Tipps zusammengetragen, wie ihr dieses Dilemma mit ein bisschen Selbstüberlistung umgehen könnt.

Für unser Ranking haben wir uns deshalb nach langen Diskussionen für eine weichere Auslegung des Open-World-Begriffes entschieden und letzten Endes alle Spiele zugelassen, die uns das Gefühl vermitteln, eine in sich schlüssige Welt den Großteil der Spielzeit frei und unabhängig von der Story erkunden zu können.

Der Witz ist ja: Selbst mein geliebtes Ultima 6 war eigentlich stark Story-geführt, aber es steckte so viel Liebe in den Details und versteckten Geheimnissen, dass es für mein Open-World-Erlebnis keine Rolle spielte, ob ich der Geschichte folgen konnte oder eben nicht.

Wow, ich habe eine Kuh gefunden! Die C64-Version von Ultima 6 mag heute wie ein undefinierbarer Pixelbrei aussehen, zählt aber bis heute zu meinen ersten und schönsten Open-World-Erfahrungen. (Quelle: MobyGames.com) Wow, ich habe eine Kuh gefunden! Die C64-Version von Ultima 6 mag heute wie ein undefinierbarer Pixelbrei aussehen, zählt aber bis heute zu meinen ersten und schönsten Open-World-Erfahrungen. (Quelle: MobyGames.com)

Unsere Definition für das Ranking mag zu solch diskutablen Ergebnissen führen, dass etwa ein Dragon Age: Inquisition mit seinen teils extrem großen Einzelwelten zugelassen war, während ein Dragon Age: Origins nicht zur Wahl stand, dessen Level-, Story- und Spielablauf für uns deutlich linearer sind.

Aber letzten Endes haben sich sowohl Nominierung als auch Ergebnis für uns einfach richtig angefühlt. Außer dass es Ultima 6 nicht in die Top 100 geschafft hat, was selbstverständlich ein ebenso unentschuldbarer wie handfester Skandal ist.

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