Starfield gibt mir etwas, das in Cyberpunk 2077 nicht möglich war

So sonderbar Starfield auch ist, in einem Punkt konnte es Michael jetzt schon zu einem großen Fan machen: Das Weltraumspiel brilliert genau dort, wo die Lebenswege von Cyberpunk 2077 ihn massiv enttäuscht haben.

Auch am realistischeren Nasa-Setting von Starfield geht Cyberpunk nicht vorbei. Auch am realistischeren Nasa-Setting von Starfield geht Cyberpunk nicht vorbei.

Rollenspiele und ich, das ist ein interessantes Thema.

»Michael, wie ist das jetzt eigentlich mit dir und Cyberpunk 2077? Redet ihr wieder miteinander?«, fragen mich Zocker-Freunde ab und zu. Ich will diese schwierige Beziehung jetzt nicht im Detail ausführen. Die Kurzfassung: Dieses Spiel hat viele Träume in mir geweckt und nur die wenigsten davon erfüllt. Manchmal sehe ich Cyberpunk 2077 auf der anderen metaphorischen Straßenseite, es sieht mich an und dann lächeln wir. Dieser Ausdruck steht für alles, was gewesen ist – und was noch hätte sein können. Sorry, ich brauche gerade einen Moment … Puh, okay.

Einer dieser vielen nicht erfüllten Träume betrifft die Lebenswege in Cyberpunk 2077. Da prophezeite das Marketing: »Uhh, du kannst einen gesetzlosen Nomaden spielen, der die Außenlanden unsicher macht. Oder ein raffiniertes Street Kid, das sich in der Stadt durchschlagen muss. Oder einen kühlen Konzerner, für den Menschenleben auch nur irgendwelche Zahlen sind.«

Michael Sonntag
Michael Sonntag

Michael Sonntag (Thaneros auf YouTube) ist Gaming-Journalist, Podcaster bei Coffee, Cake & Games und  Geschichtenjäger. In Starfield spielt er Thanera, eine Konzern-Agentin bei Ryujin Industries und einen opportunistischen Charakter, den er in jedem anderen Spiel unbedingt aufhalten würde. Aber immer nur gut zu sein, ist doch langweilig.

In meinem Kopf sah ich spielbare und interessante Leben. Auf dem Papier sind es letztendlich nur drei unterschiedliche Einstiege in das Spiel. Drei Einstiege, die sehr kurz ausfallen. Drei Einstiege, die abrupt abreißen und dann in die immer gleiche Geschichte münden. Tschüss, Rollenspiel-Individualität. Hallo Johnny!

Cyberpunk 2077: Corpo, Nomad oder Street Kid? Trailer zu den Lebenswegen Video starten 3:45 Cyberpunk 2077: Corpo, Nomad oder Street Kid? Trailer zu den Lebenswegen

Was ich behalte, sind ein paar einzigartige Dialogoptionen im späteren Verlauf, die mich aber nur an das vergangene Leben erinnern, das ich nie leben durfte.
Meinen Traum vom Cyberpunk-Konzerner habe ich zwar begraben, aber nie komplett aufgegeben. Denn erfüllt wurde er letztlich doch noch und zwar in einem Spiel, dem ich das gar nicht zugetraut hätte: Starfield.

»Ist diese Zeit budgetiert?« 

Volii-System, Planet Volii Alpha. Hier liegt die Stadt Neon und ich sage es einfach gleich heraus, was viele Spieler vermutlich beim ersten Anblick denken: Neon ist Cyberpunk 2077 in a Nutshell. Ein Meer aus leuchtenden Schildern, unzählige Geschäfte, Drogen und Kriminalität – es ist der Stadt gewordene Überlebenskampf zwischen Hyper-Armen und Hyper-Reichen, den ich auch in Cyberpunk 2077 so begierig aufsauge. Mit dem Unterschied, dass hier alles viel konzentrierter und kompakter ist. (Selbst wenn es an die Details von CD Projekt RED nicht herankommt.)

In der Konzernwelt überleben nur die Superlative. In der Konzernwelt überleben nur die Superlative.

Aber nein, es ist nicht nur Little Night City, in dieser Stadt befindet sich auch der Konzern Ryujin Industries, eine der vielen Fraktionen und mein persönliches Highlight. Ich bin für ein Bewerbungsgespräch hier, nachdem ich ein Formular an einem Terminal ausgefüllt habe. Selbstverständlich habe ich mich als absolut perfekten Kandidaten dargestellt. Denn nur Superlative zählen.

Und sobald ich diese Hallen betrete, wird alles sofort so kühl, so zahlengetrieben, so wundervoll. Während mich erbarmungsloser Kapitalismus in der realen Welt vollkommen anekelt, finde ich es faszinierend und zynisch, in einem Rollenspiel in diese unangenehme Rolle eines kapitalistischen Monsters zu schlüpfen. Denn böser geht's nicht.

Ich rocke das Bewerbungsgespräch, indem ich einfach herunterbete, was meine zukünftige Chefin hören will. Kompetenzen sind das eine, aber was ihr viel wichtiger ist: die (fast schon) religiöse Überzeugung, dass die Zwecke des Konzerns alle Mittel heiligen.

Manchmal sitze ich in meinem Hotelzimmer und denke über Moral nach – und was für ein schlechtes Verkaufskonzept das doch ist. Manchmal sitze ich in meinem Hotelzimmer und denke über Moral nach – und was für ein schlechtes Verkaufskonzept das doch ist.

Ich betone, es hat zu diesem Zeitpunkt noch kein spezielles Konzern-Gameplay stattgefunden. Starfield schafft seine Atmosphären und Welten hier einzig und allein durch Details, Abläufe und Dialoge. Ich gebe euch ein Beispiel von vielen: Als ich einen Kollegen in der Firma anspreche, grüßt er mich nicht, sondern er fragt mich als erstes, ob dieser »Termin« genehmigt sei, ob er budgetiert sei.

Es ist diese blöde, kleine Zeile, die mir so einen krassen Kick gibt. Oder um es anders zu sagen: Wäre das ein klassisches Pen&Paper, wüsste ich, dass der Questmaster die Immersion nicht nur will, sondern wirklich lebt und Bock drauf hat.

Cyberpunk 2077 hat Atmosphäre, Starfield bietet mir den Sandkasten

Ich gebe zu, es ist ironisch und absolut widersprüchlich, was ich sage. Denn die ersten dreißig Minuten als Konzerner in Cyberpunk 2077 übertreffen eigentlich jede Konzern-Minute in Starfield.
Wenn wir uns erinnern: Mein Cyberpunk-Charakter übergibt sich auf der Toilette, läuft durch beeindruckend designte Büros, klärt ein paar Details mit seinen Kollegen und führt dann ein hitziges Gespräch mit seinem Boss.

Wenn ihr einen Konzerner (oder Corpo) in Cyberpunk 2077 spielt, bekommt ihr damit nur einen speziellen Einstieg und ein paar Dialogoptionen. Mehr leider nicht. Wenn ihr einen Konzerner (oder Corpo) in Cyberpunk 2077 spielt, bekommt ihr damit nur einen speziellen Einstieg und ein paar Dialogoptionen. Mehr leider nicht.

Was für ein Atmosphäre injizierender Einstieg! Wäre da nicht die letzte Szene, die fast schon metaphorisch wirkt: Auf den prächtigen Shuttleflug mit Champagner folgt die plumpe Entlassung in einer Bar. Wow …

Diese großartige Serie, in der ich gerade gelebt habe, wird nach der ersten Folge direkt abgesetzt. Und deshalb verliert Cyberpunk 2077 für mich trotz aller atmosphärischer Leuchtkraft an dieser Stelle. Das Potenzial wurde für einen spielbaren Trailer genutzt, aber nicht wirklich für ein Rollenspiel. Denn meine Ideen und Träume spielen überhaupt keine Rolle.

Starfield dagegen – so stumpf und simpel die vielen Beschaffungsmissionen der Konzernquestreihe auch wirken – gibt mir zumindest die Kulisse, Schauspieler und Szenen, um meine Rollenspielphantasie als Konzerner wirklich auszuleben.

Kulisse, Schauspieler, Dialoge, Details – in Starfield konnte ich meinen Traum vom Konzerner wahr machen. Kulisse, Schauspieler, Dialoge, Details – in Starfield konnte ich meinen Traum vom Konzerner wahr machen.

Ich reise zu verschiedenen Planeten, um Unternehmen zu infiltrieren. Während ich vorgebe, mich über die Firmen zu informieren und gegebenenfalls eventuelle Kooperationsmöglichkeiten auszuhandeln (Neue Quests nehme ich immer gerne mit), bin ich in Wahrheit nur hier, um die Konkurrenz zu sabotieren.

Erbarmungslos, aber professionell. Nachdem der Auftrag erledigt ist, treffe ich mich mit meiner Chefin zu einem Nachgespräch in ihrem Büro. Sie ist sehr zufrieden und schließt nicht aus, dass ich irgendwann – wenn ich weiter so gut arbeite – auch ihre Stelle haben könnte. Was auch von Anfang an mein Plan war, seitdem sie das Bewerbungsgespräch mit mir geführt hat

Es ist mir egal, ob Starfield das alles erlaubt oder jedes Feature einlöst, das es andeutet. Was Starfield mir auf jeden Fall ermöglicht, ist, dass ich nicht nur eine Figur in einem Konzern-Anzug steuere, sondern auch dank der vielen Details wie ein Konzerner denken darf und darin auch bestärkt werde. Während ich mich dabei komplett abstoßend finde und mir wie der größte Antagonist in Starfield vorkomme.

Es ist meine eigene furchtbare Geschichte, die ich selbst erlebe und schreibe, und auf deren Ausgang ich absolut gespannt bin. Egal ob mein Charakter zerlasert in einem Hotelzimmer stirbt oder zusammen mit einer Basis in die Luft fliegt. Oder einfach als ein Mythos verschwindet. 

Dieses Wow. Dieses Rollenspiel-Wow, was mir Cyberpunk 2077 leider nicht geben konnte. Oder anders gesagt: Tut mir leid, CP, es lag nun mal vollkommen an DIR.

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