Fazit: Thief im Test - Everybody's darling is nobody's friend

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Fazit der Redaktion

Jochen Gebauer: Ich bin davon überzeugt, dass Thief ursprünglich mal ein Deus Ex im Steampunk-Szenario werden sollte. Die Überreste jedenfalls sind vorhanden, eine offensichtlich auf Erfahrungspunkte ausgelegte Fokus-Mechanik, Ausrüstungsgegenstände mit passiven Boni, optionale Missionsziele, modulare Levels, etliche Nebenaufgaben. Und ich bin aufrichtig davon überzeugt, dass das ein sehr gutes Spiel geworden wäre; kein »echtes« Thief wahrscheinlich, aber ein Spiel, das ich gerne gespielt hätte.

Man kann es den Fans freilich nicht krummnehmen, dass sie gegen Teile dieses Konzepts Sturm gelaufen sind - würden sie fundamentale Änderungen an »ihrem« Spiel begrüßen, wären sie ja keine Fans. Aber ich muss nüchtern festhalten, dass die eiligen Änderungen der letzten Monate nicht zu einem besseren Resultat geführt haben, im Gegenteil. Es ist immer noch kein echtes Thief - aber jetzt ist es eben auch kein herausragendes Action-Adventure (mehr). Unterm Strich macht mir das ebenfalls nicht perfekte Dishonored spürbar mehr Spaß, weil ich dort mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Vorgehensweisen experimentieren kann.

Bei Thief hingegen nutze ich in den oft linearen Levels immer wieder die gleichen Taktiken. Das soll nicht bedeuten, dass ich keinen Spaß gehabt hätte - den hatte ich. Und es soll nicht bedeuten, dass es ein schlechtes Spiel wäre - das ist es nicht. Aber wenn ich darüber nachdenke, was Thief hätte sein können, wenn es bloß den Mut gehabt hätte, etwas sein zu wollen, dann ärgere ich mich. Die Neuinterpretation eines geschätzten Klassikers kann nur funktionieren, wenn man im Zweifelsfall den Mumm besitzt, die Fans auch mal vor den Kopf zu stoßen. Peter Jackson kann ein Liedchen davon singen. Thief auch. Bloß kein so erfolgreiches.

Petra Schmitz: Dass Thief spielerisch einen Spagat hinlegen würde, der das Spiel fast auseinanderbrechen lässt, hatte ich ja schon geahnt. Womit ich allerdings nicht gerechnet hatte, ist die Sache mit Garrett. Kann sich noch jemand erinnern, wie großartig, wie einzigartig der Originalheld von 1998 war? Die Monologe, die er in den Zwischensequenzen führte, ließen ihn zu einem greifbaren und nachvollziehbaren Charakter werden. Ein Sympathieträger, mit dem ich nur zu gerne durch die Häuser schlich. Jetzt werde ich mit einer blassen, fast schon farblosen Figur konfrontiert, der es sogar egal ist, dass sie ein Jahr ihres Lebens verloren hat.

Wie soll ich mich damit identifizieren? Natürlich wird das verschwundene Jahr später thematisiert, aber ohne dass es Garret irgendwie emotional mitzunehmen scheint. Und so bleibt mir meine Spielfgur auch auf der erzählerischen Ebene egal. Ich rege mich stattdessen über diese Schludrigkeit im Drehbuch auf, die mir das vorenthält, was ich abseits aller Mechanik an den alten Thief-Spielen am wichtigsten und besten fand: Garrett!

Michael Graf: Auf Garretts Comeback habe ich mich diebisch gefreut: Endlich ein neues Thief, endlich die Fortsetzung einer meiner absoluten Lieblingsserien! Die drei Vorgänger habe ich seinerzeit wie im Rausch durchschlichen - inzwischen sogar je zweimal, einfach weil es viel zu lange viel zu wenig Vergleichbares gab. Entsprechend hoch war allerdings auch meine Erwartungshaltung, und entsprechend ernüchtert bin ich nun über dieses halbgare Diebesabenteuer.

Ja, Thief führt mich an stimmungsvolle Schauplätze und entwickelt in seinen besten Momenten einen wunderbaren Spielfluss samt tollem Körpergefühl: Durch die Schatten huschen, Wachen niederknüppeln, Schubladen aufziehen und Tresore knacken - all das funktioniert und motiviert, all das weckt wohlige Erinnerungen ans alte Garrett-Gefühl. Auch das Erkunden und Ausräumen der Stadt macht Spaß, vor allem auf dem höchsten Schwierigkeitsgrad, der ist für mich in einem Schleichspiel eh Ehrensache. Und das unpassende Fokus-System habe ich einfach abgeschaltet, auch wenn mir das ein Rätsel in der Bordell-Mission erschwert hat. Gut, Kleinigkeit.

Viel schwerer wiegt, dass Thief in zwei Paradedisziplinen versagt, die die ersten beiden Serienteile ausgezeichnet haben: die Sandbox und der Sound. Für mich bestand der Reiz an Thief immer darin, dass ich mir in den Sandkasten-Levels eigene Wege suchen musste, Dächer erklimmen, Wachen umschleichen - und all das mit begrenzten Ressourcen. Damals habe ich minutenlang überlegt, ob ich nun tatsächlich meine Wasserpfeile mit Weihwasser zurkurzfristigen Anti-Zombie-Geheimwaffe tunen oder doch lieber zum Löschen von Fackeln aufsparen soll. Manchmal blitzt dieses Grübelflair, dieses Abwägen zwischen unterschiedlichen Vorgehensweisen auch im neuen Thief durch, vor allem in den späteren Levels.

Meist aber ist der Schleichpfad offensichtlich, zumal mir der übermächtige Husch-Move das Pirschen radikal erleichtert. Noch dazu gibt mir das Spiel nicht nur vor, wo ich Seilpfeile hinschießen kann, sondern auch wo ich klettern und springen (!) darf - liebes Eidos Montreal, da fühle ich mich als Spieler entmündigt! Und dann spielt auch noch der Sound eine unerhört unwichtige Rolle. Da kann ich direkt hinter einem Wächter vom Dach springen - keine Reaktion. Unterschiedlich laute Oberflächen - kaum wahrnehmbar, es macht höchstens einen Unterschied, ob ich renne oder gehe.

Für eine Serie, in der ich früher millimeterweise nachgemessen habe, wohin ich Moospfeile schießen muss, um mit möglichst wenig Pfeilverbrauch möglichst große Flächen abzudecken, für eine solche Serie ist das ein absoluter Rückschritt. So fühlt sich das neue Thief wesentlich geradliniger, »casualisierter« an als seine Vorgänger, kurzum: nicht mehr wie ein echtes Thief. Ich freue mich zwar, dass angesichts des Call-of-Duty-Stumpfsinns überhaupt noch Schleichspiele entwickelt werden, hier jedoch wäre sehr viel mehr drin gewesen.

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