"Fallout 2.5", das geistige Erbe einer vergangenen Rollenspiel-Ära

ATOM RPG lässt alte Zeiten frisch aufleben und sollte trotz vieler kleiner Probleme keinesfalls als radioaktiver Müll abgestempelt werden.

von Dunkelpfeil am: 22.01.2019

Faszination Apokalypse

Die Bomben fallen. Ein aussichtsloser Krieg findet ein jähes Ende in der unwiderruflichen Vernichtung. Zügellose, zerstörerische Kraft äschert alle Triumphe und Erfolge der Menschheitsgeschichte in Sekundenschnelle ein. Atompilze zieren den Horizont, Chaos bricht aus, panische Menschenmassen versuchen dem nuklearen Inferno zu entrinnen. Doch als der Rauch sich legt und die Welt einem einzigen Meer aus Trümmern gleicht, haben es nur wenige geschafft. Der Ausblick auf die verseuchten Ruinen ist atemberaubend und bedrückend zugleich.

Nachdem der Konflikt zwischen der Sowjetunion und den Westmächten eskaliert war und im Jahr 1986 seinen atomaren Höhepunkt gefunden hatte, erhob sich aus dem Schutt der alten Welt eine neue Zivilisation, aufgebaut auf den Überbleibseln längst vergangener Zeiten. ATOM RPG wählt damit einen konventionellen Einstieg in das Setting der Spielwelt und geht somit wenige erzählerische Risiken ein. Das Intro erfüllt seinen Zweck: Den Spieler kurz und schmerzlos in der erbarmungslosen Einöde willkommen zu heißen. Auf die minimalistische Geschichtsstunde folgt sogleich eine Einführung in die Mysterien der Geheimgesellschaft ATOM, für die der Protagonist tätig ist. Das Spiel lässt sich auch an dieser Stelle wenig Zeit für Erklärungen und wer die Tutorials von anderen Genrevertretern (der geübte Ödländer denkt hierbei selbstverständlich an den vierten Teil einer bekannten Spielreihe) zu schnell und erzwungen fand, dürfte nun bereits enttäuscht den Mauszeiger Richtung „Exit“-Button bewegen.

Exit? All jene, die trotz eines holprigen Einstiegs dennoch am Spiel interessiert sind, seien darauf hingewiesen, dass ATOM RPG bisher nur auf Englisch und Russisch erhältlich ist. Ohne viel vorweg zu nehmen, sollte an dieser Stelle erwähnt werden, dass ein Großteil des Spielerlebnisses darin besteht, Texte zu lesen. Daher sollte man Spaß am Schmökern langer (nicht vertonter) Dialoge aufbringen können.

Trotz des ernüchternden Beginns, freut sich der Spieler natürlich dennoch auf den spannenden Überlebenskampf in der atomaren Wüste, die einst als Zivilisation bekannt war. Doch bevor dieser beginnen kann, findet man sich im Charaktereditor wieder. Es heißt schließlich ATOM „RPG“ und da darf ein ordentlicher Charakterbaukasten nicht fehlen.

 

Pen&Paper oder Action-RPG?

Zum Leidwesen begeisterter Rollenspieler zeichnen sich moderne RPGs oftmals dadurch aus, dass sie Entscheidungen nur vage differenzieren, wenige Möglichkeiten zur Individualisierung des Protagonisten überlassen und den Spieler so sehr an die Hand nehmen, dass er verlernt selbstständig zu denken. So ist es nicht verwunderlich, dass weite Teile der Käuferschaft von AAA-Titeln der letzten Jahre ihren Unmut über die aktuellen Teile beliebter Serien wie Fallout oder Dragon Age kundgetan haben. ATOM RPG versucht sich diesem Trend entgegenzustellen und erinnert vielmehr an die guten, alten Zeiten als Fallout noch aus der Iso-Perspektive gesteuert wurde. Zwar wird das Rad nicht neu erfunden, jedoch bleibt es dem Spieler selbst überlassen, seine Figur nach Lust und Laune (im Rahmen des Regelsystems) bezüglich ihrer Attribute und Fähigkeiten anzupassen.

 Dies birgt einerseits eine gewaltige Menge Spaß, sich beim Verteilen der Punkte austoben zu können, aber auch die Gefahr, im späteren Verlauf des Spiels mit der gewählten Skillung unzufrieden zu sein. Hilfestellungen und Tipps sucht man vergeblich, ATOM RPG vertraut darauf, dass das notwendige Wissen beim Spieler bereits vorhanden ist. Teilweise frustrierend? Ja. Tödlich für den Spielfluss? Keinesfalls, da zahlreiche Quests auf unterschiedliche Arten gelöst werden können. So ist es oftmals möglich durch eine geschickte Wahl von Dialogoptionen (vorausgesetzt Fähigkeitspunkte wurden in entsprechende Talente investiert) einen Schusswechsel zu umgehen oder ein Schloss einfach aufzubrechen anstatt die Kombination in Erfahrung zu bringen. Bei Kämpfen funktioniert das erwähnte Konzept leider gar nicht, da die meisten Konflikte im „Du schießt auf mich, ich schieß auf dich“-Prinzip ausgefochten werden. Natürlich bleibt es dem Spieler überlassen, ob er die mutierte Ratte erschlägt, durch eine Gewehrkugel erlegt oder mit einer Granate im Raum verteilt. Zwar können Körperzonen anvisiert werden, taktischen Tiefgang sucht man jedoch vergeblich. Kampfaktionen basieren auf Wahrscheinlichkeiten und wer einen Kampf nicht direkt neu startet, weil der liebgewonnene Begleiter bereits in Runde 1 dank kritischem Kopfschuss tot im Staub liegt, der werfe den ersten Stein (und verfehle trotz 99% Trefferchance). Gerade deswegen ist es möglich aus zahlreichen Kämpfe als Sieger hervorzugehen, die anfangs aussichtslos erschienen, was ein durchaus befriedigendes Gefühl bewirken kann und an vielen Stellen des Spiels motivierend ist.

Des Weiteren lassen sich bei erreichten Level Ups Fähigkeiten steigern und dem Protagonisten sowie seinen Mitstreitern können Talente zugewiesen werden. Dabei bleiben dem Spieler einige Möglichkeiten, seine Gruppe zu spezialisieren, es verstecken sich aber auch eine Handvoll sinnfreie Wahlmöglichkeiten im Talentbaum. 10% häufiger auf Karawanen treffen, die ohnehin um jede Ecke lauern oder schneller schießen können? Die Wahl fällt schwer.

Doch was wäre ein RPG ohne eine Gefolgschaft aus treuen Anhängern? Ob Lydia, Garrus oder Bastila, zusammen stirbt es sich schließlich besser als alleine.

 

Zwar ist es möglich seine Gefährten auszurüsten, indem man ihnen Waffen zuteilt, das System ist jedoch umständlich und es wirkt zuweilen so als hätte jeder der Mitstreiter seinen eigenen Kopf. Was auf den ersten Blick geradezu wünschenswert ist, verliert schnell seinen kompletten Reiz, wenn man bedenkt, dass die Begleiter-KI stellenweise fürchterlich funktioniert. Vielleicht haben die Jahre intensiver Strahlung, niedriger Essensrationen und alltäglicher Gewalt ihre Spuren hinterlassen oder aber es ist nicht beabsichtigt, dass Teammitglieder den Weg blockieren, ziellos umher rennen oder dem Protagonisten heimtückisch in den Rücken schießen.

Grundlegend funktioniert das System, Begleiter sind jedoch eine von vielen Mechaniken, die sowohl bezüglich des Interfaces als auch ihrer KI eher schlecht als recht gelungen sind.

 

Ödland überleben oder Kauf überlegen?

 

Es ist immer leichter zu kritisieren als zu loben und an dieser Stelle sei noch einmal ausdrücklich erwähnt, dass es sich um ein 14,99€ Spiel handelt, das den Traum verwirklichen will, alte Videospielzeiten modern aufleben zu lassen. Was verbleibt also, lässt man Inszenierung, KI und Kampfsystem außen vor? Dann offenbart sich dem Spieler der wahre Kern von ATOM RPG: eine atmosphärische Präsentation des Lebens nach dem atomaren Super-GAU. Ganz ohne bombastische Grafik, mit wenigen Animationen und sogar ohne Vertonung. Böse Zungen mögen behaupten, dies sei einer kostenminimierenden Produktion geschuldet, die gewünschte Stimmung kann jedoch auch ohne diese audiovisuellen Luxusgüter vermittelt werden. All jene, welche die besondere Gabe in sich tragen, auch bei minutenlangen Dialogen geduldig den vollständigen Text mitlesen zu können und jede Antwortmöglichkeit überdenken möchten, werden voll und ganz auf ihre Kosten kommen. Nahezu jedes Gespräch ist auf seine Weise besonders. Ob lustig, interessant, spannend oder gar berührend, jeder Ödlandbewohner hat seine eigene Geschichte und die meisten sind gewillt, davon zu berichten.

Trotz der spartanischen Grafikpracht schafft es das Spiel die dargestellten Schauplätze überzeugend zu präsentieren. ATOM RPG ist in zahlreiche kleine Gebiete unterteilt, die über eine stilisierte Weltkarte erreicht werden können und es handelt sich somit um keine Open World. Das ist dem Game jedoch keinesfalls als Nachteil anzurechnen, vielmehr bewirkt diese Tatsache, dass jeder Ort seine Daseinsberechtigung hat und der Spieler bekommt die Möglichkeit in nahezu jedem Winkel etwas Neues zu entdecken.

Alleinstellungsmerkmale

Da die Entwickler es selbst offen zugeben, muss es kein Geheimnis bleiben, dass viele Gameplaymechaniken stark von anderen Vertretern des Genres inspiriert sind. Wem Fallout oder Wasteland Begriffe sind, der dürfte viele Spielaspekte wiedererkennen. Dabei versucht ATOM RPG das Beste aus allem zu kombinieren, muss dabei aber auch Abstriche machen.

So werden unter anderem von Attributen und Fähigkeiten abhängige Dialoge geboten, gruppenbasierte Kämpfe dienen dazu gewaltsame Konflikte auszufechten, der Spieler kann seine eigene Basis im Ödland errichten, überall lassen sich Gegenstände finden (von Schrott bis zu seltenen Vorkriegswaffen ist alles dabei), mit denen Handel betrieben werden kann. Es ist ebenfalls möglich, dem Glücksspiel zu frönen (was sich mit niedrigem Luckstat als äußerst frustrierend erweist), diverse Aufgaben zu erfüllen, die sich weitestgehend als sehr abwechslungsreich gestalten und die Welt zu bereisen, um entlegene Orte zu entdecken.

Die Möglichkeiten sind nicht grenzenlos, aber so mannigfaltig, dass auch nach vielen Stunden aufgrund neuer Personen, Begleitern, Ortschaften, Waffen, Geschichten und Gefahren keine Langeweile aufkommt.

 

Fazit

ATOM RPG macht nicht alles einwandfrei, es richtet sich nicht an jeden Spieler und ich habe mich an unzähligen Stellen geärgert, dass es sich nicht um einen Vollpreistitel handelt, der bei der Entwicklung über ein anständiges Budget verfügt hätte. Die Grundidee begeistert mich als eingefleischten Rollenspieler und man muss kein Fan des Genres sein, um zu erkennen, dass in diesem Projekt einiges an tollen Ideen und Herzblut steckt.

All jenen, die rundenbasierte, (halbwegs) taktische Kämpfe mögen, sich gerne in äußerst gut geschriebenen Dialogen verlieren und Interesse an einer vielschichtigen postapokalyptischen Geschichte aufbringen können, sei nahegelegt, ATOM RPG trotz all seiner offensichtlichen Makel eine Chance zu geben. Ich persönlich störe mich eigentlich sehr daran, wenn gute Ideen nicht richtig umgesetzt werden konnten und hatte dennoch bereits viele Stunden Spaß. Atmosphärisch konnte mich das Spiel vollends überzeugen und falls ich wieder mal jemanden verzweifelt jammern höre, dass die storyfokussierten Zeiten eines 2D-Fallouts lange vorbei sind, habe ich jetzt immerhin einen Geheimtipp, um ihn eines Besseren zu belehren.

 

Bewertung

ATOM RPG erreicht bei mir 74 Punkte. Grafisch präsentiert sich das Spiel aus heutiger Sicht etwas eingerostet, wirkt stellenweise eintönig und es fehlen oftmals Animationen, die Aktionen untermalen. Dafür werden liebevolle Charakterportraits geboten und der Aufbau der Welt ist gut durchdacht und nachvollziehbar. Die Soundkulisse ist auch trotz fehlender Dialoge überzeugend. Kämpfe hätten mehr Tiefgang vertragen können, dafür ist das Fortschrittssystem der Charaktere gelungen und man spürt die neu erworbenen Stärken der Spielfigur insbesondere in Dialogen. Der hauptsächliche Grund für die eher mittelmäßige (und dennoch gute) Wertung besteht aus der Tatsache, dass dem Spiel starke technische Grenzen gesetzt sind. Nahezu jede Interaktion mit der Welt spielt sich einzig und allein im Dialogfenster ab, die Areale sind oftmals sehr klein, wiederholen sich bei Zufallsbegegnungen bereits nach kurzer Spielzeit und selbst wenn in Gesprächen der nächste Weltkrieg ausbricht, stehen die Charaktere regungslos in der Gegend herum. Dass all dies zu einem gewissen Charme dieses Genres beiträgt, ist nicht abzustreiten, dennoch wäre an vielen Stellen eine zeitgemäßere Umsetzung möglich gewesen.


Wertung
Pro und Kontra
  • ausgezeichnete Dialoge
  • durchdachtes Charaktersystem
  • Spielwelt, die zum Erforschen einlädt
  • überzeugendes Apokalypse-Feeling
  • Fokus auf Storytelling
  • Entscheidungsmöglichkeiten und alternative Lösungswege
  • großer Umfang
  • niedriger Preis
  • keine Vertonung
  • Texte nur auf Englisch und Russisch
  • Kämpfe sehr auf Glück basiert
  • mäßige Grafik
  • wenig Tutorials und Hilfestellungen
  • zäher Spieleinstieg

Zusätzliche Angaben

Schwierigkeitsgrad:

eher schwer

Bugs:

Nur sehr wenige

Spielzeit:

Mehr als 20, weniger als 40 Stunden



Kommentare(2)
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