Barrierefreies Gaming - Spielen mit Behinderung

Während es jede Menge Richtlinien gibt, Gebäude, Filme oder Freizeitparks möglichst barrierearm zu gestalten, fällt das Engagement im Videospielbereich eher mau aus. Die Community muss sich zu oft selbst helfen. Dabei könnten schon kleine Veränderungen für große Verbesserungen sorgen. Wieso kümmert sich niemand darum?

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1999 führten die Psychologen Daniel Simons und Christopher Chabris ein Experiment durch, bei dem Versuchspersonen ein Basketballspiel verfolgen und hinterher angeben sollten, wie viele Ballwechsel es insgesamt gab. Der Clou daran war, dass mitten im Spiel eine Frau mit einem riesigen Regenschirm ins Bild spazierte, ihn aufspannte und dann wieder verschwand. In einem zweiten Experiment trug die Frau ein Gorillakostüm, in dem sie über das Feld lief, sogar stehen blieb und sich auf die Brust trommelte.

Wenn er für uns nicht relevant ist, bemerken wir nicht einmal einen Gorilla auf einem Basketballfeld. Wenn er für uns nicht relevant ist, bemerken wir nicht einmal einen Gorilla auf einem Basketballfeld.

Über die Hälfte der Probanden bemerkte weder die Frau mit Regenschirm noch den Gorilla. Dieses Phänomen wird als Unaufmerksamkeitsblindheit bezeichnet. Unser Gehirn hat viel zu tun und bringt Geschehnissen oder Umständen erst dann Aufmerksamkeit entgegen, wenn es einen dementsprechenden Reiz erhält, es also für uns persönlich wichtig wird. Ähnliches gilt fürs Spielen mit Behinderung.

Wenn ein neues Spiel erscheint, diskutieren nämlich Kritiker wie Fans über Auflösung, Bildrate oder Vorbestellerboni, die offensichtlichen Dinge eben. Doch nur die wenigsten interessiert, ob das Spiel anständig untertitelt ist, oder ob man die Tastatur- und Controllerbelegung ändern kann. Für einen Großteil der Bevölkerung ist das irrelevant.

Aber was ist, wenn man nicht hören kann und ohne Untertitel die Geschichte nicht versteht? Oder wenn man nur einen Arm hat und darauf angewiesen ist, ein Spiel komplett mit der rechten Hand steuern zu können? Schon eine verhältnismäßig geringe Einschränkung wie die Farbenfehlsichtigkeit (die bei rund fünf Prozent der Bevölkerung auftritt) kann dazu führen, dass ein Shooter keinen Spaß mehr macht, weil man das rote Fadenkreuz nicht vom grünen Waldhintergrund unterscheiden kann.

Dieser Artikel
Unser Plus-Report über barrierefreies Gaming erschien bereits im Februar auf GameStar.de. Schon damals haben wir versprochen, ihn zu einem späteren Zeitpunkt für alle User verfügbar zu machen, dies aber leider aus den Augen verloren. Dafür bitten wir vielmals um Entschuldigung.

Spielen ohne Hände Twitcher wie NoHandsKen zeigen live, dass Videospiele verbinden – ob man jetzt mit den Händen, mit den Füßen oder mit dem Mund spielt

Diablo 3 mit den Lippen gespielt Hier steuert No Hands Ken seinen Diablo 3-Helden mit Lippenbewegungen.

Und obwohl laut dem Statistischen Bundesamt über zehn Millionen Menschen in Deutschland mit einer anerkannten Behinderung leben, wird das Thema barrierefreies Gaming geradezu stiefmütterlich behandelt. Nicht aus bösem Willen, sondern aus mangelnder Sensibilität für das gesamte Thema.

Menschen mit einwandfreier Sicht machen sich keine Gedanken darüber, ob die halb transparente Minimap am Bildschirmrand gut erkennbar ist oder nicht. Wenn etwas uns persönlich nicht einschränkt, nehmen wir es nicht wahr, auch wenn es für noch so viele andere Menschen zum Alltag gehört. Wir achten nicht auf den Gorilla, sondern auf den Basketball.

Spiele wie Assassin’s Creed, bei denen viele Knöpfe gleichzeitig gedrückt werden müssen, sind vor allem für Menschen mit Bewegungsstörungen oder Lähmungen schwierig zu meistern. Spiele wie Assassin’s Creed, bei denen viele Knöpfe gleichzeitig gedrückt werden müssen, sind vor allem für Menschen mit Bewegungsstörungen oder Lähmungen schwierig zu meistern.

Schlicht und einfach nicht rentabel

Der Quadstick wurde per Kickstarter-Kampagne finanziert und erleichtert Querschnittsgelähmten die Bedienung von Konsolen und Computern. Der Quadstick wurde per Kickstarter-Kampagne finanziert und erleichtert Querschnittsgelähmten die Bedienung von Konsolen und Computern.

Die mangelnde Aufmerksamkeit schlägt sich auch in der Industrie nieder. Vom rein ökonomischen Standpunkt aus sind Anpassungen an unterschiedliche Behinderungen vor allem weitere Kosten, die aufgrund der verhältnismäßig kleinen Zielgruppe keinen Gewinn bringen. Wenn spezielle Hardware für behinderte Spieler entwickelt wird, kommt sie meist von innerhalb der Community selbst. Aufgrund der geringen Mengen und der hohen Produktionskosten ist sie allerdings extrem teuer oder schwer zu beschaffen.

Kinesische Mäuse beispielsweise, mit denen man ein Spiel mittels Kopfbewegungen, Mimik und sogar Augenrollen steuern kann, liegen bei über 300 Euro. Der QuadStick, ein Controller, der Querschnittsgelähmten die Steuerung mit dem Mund ermöglicht, kostet sogar fast 400 Euro. Durch eine industrielle Massenproduktion würden die Kosten erheblich sinken, doch auch hier existiert wieder das Problem mit dem Absatzmarkt: Es würden nicht genug Leute die Hardware kaufen, um eine große Herstellungsmengen zu rechtfertigen.

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Daher verwirklicht der Entwickler Fred Davidson die Herstellung der ersten Quadstick-Prototypen auch über Kickstarter, 27.905 Dollar kamen dafür zusammen. Manchmal muss ein Controller auch speziell an die Verfassung eines Menschen angepasst werden. Für einen Spieler, der zwar seine Arme, aber weder seine Finger noch seine Lippen bewegen kann, hat Davidson seinen Quadstick so umgerüstet, dass er mit einer Infrarot-Kamera und speziellen Arm-Joysticks zusammenarbeitet. Zu großen Teilen bleibt der Community nichts anderes übrig, als sich selbst zu helfen.

Es gibt zahlreiche Websites, die sich mit dem Thema Spielen mit Behinderung auseinandersetzen. Es gibt zahlreiche Websites, die sich mit dem Thema Spielen mit Behinderung auseinandersetzen.

Hilfreiche Websites
AbleGamers.com vereint eine Sammlung von Webseiten, die Betroffenen, ihren Pflegern und auch Spieleentwicklern mehr Infos zum Thema geben.
UnstoppableGamer.com sammelt Tests und Previews zu Videospielen jedweder Plattform und prüft sie auf ihre Tauglichkeit für die unterschiedlichen Spielergruppen.
Includification.com legt sein Hauptaugenmerk auf Entwickler, die barrierearme Spiele designen möchten. Sie finden hier Designanhaltspunkte und -grundvoraussetzungen sowie jede Menge wissenschaftliche Aufsätze und Studien zum Thema.
AudioGames.net trägt Informationen über Spiele zusammen, die hauptsächlich auf Geräuschkulisse und Sound setzen. Menschen mit Seh- oder Leseschwäche können sich hier voll und ganz auf die Atmosphäre konzentrieren.
OneSwitch.org.uk sammelt vor allem Ideen und Technologie, die uns beim Spielen unterstützt. Das reicht von Ein-Hand-Controllern über PC-Sticks bis hin zu Schaltermodulen aller Art.
IGDA-GASIG.org beschäftigt sich als internationale Gruppierung vor allem damit, Entwickler und Gamer zusammenzubringen, um Spiele langfristig barriereärmer zu machen.

Hilfe zur Selbsthilfe

Und das mehr als effektiv. Die Website Unstoppablegamer.com bietet beispielsweise Tests und Previews an, die neben Standardkategorien wie Story oder Grafik auch berücksichtigen, für welche Spielergruppen sich ein Titel überhaupt eignet. Rocket League für PC und PlayStation 4 erhält dort beispielsweise sehr hohe Wertungen. Denn das Spiel ist komplett ohne Ton spielbar und eignet sich deswegen perfekt für Gehörlose.

Wenn in einem Horrorspiel (hier Amnesia) vor allem mit Geräuschen gearbeitet wird, bekommen Gehörlose kaum etwas von der Atmosphäre mit. Wenn in einem Horrorspiel (hier Amnesia) vor allem mit Geräuschen gearbeitet wird, bekommen Gehörlose kaum etwas von der Atmosphäre mit.

Menschen mit Sehbehinderung haben aufgrund der hohen Kontraste und knallbunten Farben ebenfalls wenig Schwierigkeiten, die Aufteilung der Teams in Orange und Grün beugt den Problemen von Farbenfehlsichtigen vor, und weil die einzig wichtigen Aufgaben Gasgeben und Steuern sind, ist Rocket League auch mit nur einer Hand oder sehr komfortabel mit dem Mund steuerbar. Witcher 3 hingegen wird in den Kategorien »Sehen« und »Bewegung« regelrecht abgestraft.

Beim Release ließen sich die Tastenbelegung noch nicht ändern, was bei einem Kampfsystem, das auf schnellen Reaktionen basiert, die Steuerung für manche zum fast unüberwindbaren Hindernis macht. Auch die schwer lesbare, weil winzige Schrift in Menüs und Dialogen hat den Unstoppable-Tester vor Probleme gestellt. Allerdings sei das Spiel perfekt auf Gehörlose ausgerichtet, da der Hexersinn auch Geräusche optisch darstellt und der Spieler so ohne Probleme herannahende Feinde frühzeitig erkennen kann.

Bei textgetriebenen Rollenspielen wie Pillars of Eternity ist es unglaublich wichtig, die Schriftgröße einstellen zu können. Menschen mit Sehschwäche haben oft Probleme, die verschnörkelte Schrift zu entziffern. Bei textgetriebenen Rollenspielen wie Pillars of Eternity ist es unglaublich wichtig, die Schriftgröße einstellen zu können. Menschen mit Sehschwäche haben oft Probleme, die verschnörkelte Schrift zu entziffern.

Ohne Frage wird es für Entwickler schwieriger, solche Barrieren zu vermeiden, je komplexer ein Spiel ausfällt. Wenn Geralt fünf unterschiedliche Zauber im Kampf verwendet, ist es nicht möglich, alle auf eine einzige Taste zu legen. Trotzdem wirken kleine Anpassungen an Hard- und Software oft Wunder. Ein textgetriebenes Rollenspiel wie Pillars of Eternity hat zwar oft eine Unzahl kleiner Fähigkeiten- und Zaubericons, auf die man klicken muss, würde sich aber theoretisch dennoch als barrierefreier Titel eignen.

Denn die Dialoge sind allesamt untertitelt, und dank der Helligkeitseinstellungen können auch dunkle Dungeons erkundet werden. Eine verschnörkelte Schrift, wie sie Pillars und viele andere Rollenspiele verwenden, ist für schlechte Augen jedoch ein Fluch. PC-Spieler haben hier einen großen Vorteil: Mods. Ob die jetzt Geräusche anzeigen, fehlende Untertitel ausblenden oder auch nur die Schriftart ändern, von Spielern gebastelte Modifikationen sind der schnellste Weg, Barrieren abzubauen.

Die Teamfarben in Rocket League sind Blau und Orange – und dadurch auch für Farbenblinde klar unterscheidbar. Die Teamfarben in Rocket League sind Blau und Orange – und dadurch auch für Farbenblinde klar unterscheidbar.

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