Ende Dezember 2020 veröffentlichte GameStar einen ausführlichen Report, der von den Erfahrungen deutscher Spieleentwickler mit Crunch erzählte - also monatelangen Phasen der Mehrarbeit, unter denen die persönliche Gesundheit wie die Produkte gleichermaßen leiden.
Unser Report drehte sich dabei vorrangig um die Erfahrungen, die aus der klassischen Crunch-Situation heraus entstanden: Unfreiwillige, aufgezwungene Überstunden, die die rechtzeitige Fertigstellung eines Spiels oder das Erreichen eines internen Meilensteins garantieren sollen.
Doch in unseren Gesprächen mit Entwicklern und Entwicklerinnen wurden wir noch auf ein weiteres Phänomen aufmerksam, das sich zwar von den gängigen Crunch-Symptomen etwas unterscheidet, aber nicht minder gefährlich für Betroffene sein kann: Der innere Druck, ein hoher Anspruch an die eigene Arbeit, der Menschen vermeintlich freiwillig zu Überstunden weit über die eigenen Belastungsgrenzen hinaus bis in den Burnout treibt - und gleichzeitig im Gegensatz zu Crunch nur selten als echtes Problem erkannt wird.
GameStar hat mit Entwicklerinnen und Entwicklern gesprochen, die monate- oder sogar jahrelang aus eigenem Antrieb heraus Überstunden leisteten und an ihrem selbstgemachten, inneren Druck fast zerbrachen. Betroffene erzählten uns, wie sie in diese Drucksituationen gerieten, welchen Einfluss die Besonderheiten der Spielebranche auf sie hatten - und wie sie sich aus dem selbstzerstörerischen Kreislauf aus Ambition und Ansprüchen anderer befreien konnten.
Der Autor
Dom Schott ist seit 2017 freier Journalist und beschäftigt sich als einen Schwerpunkt seiner Arbeit mit den Arbeitsrealitäten- und bedingungen in der Spielebranche. Bei seinem Online-Magazin OK COOL interviewt er wöchentlich Entwicklerinnen und Entwickler und erfährt dort immer wieder von Leidensgeschichten, die durch Crunch überhaupt erst möglich wurden - und den Folgen für Betroffene: Mal ganz direkt und unmittelbar, mal in Form gesundheitlicher Probleme, die sich erst nach Jahren wirklich bemerkbar machen.
Im Visier der Ansprüche
In unseren Interviews Ende 2020 erzählten viele Betroffene nicht nur von erzwungenen Überstunden und indirekten Aufforderungen zur Mehrarbeit, sondern auch vom »intrinsischen Crunch«. Diesen Begriff wählten viele unserer Gesprächspartnerinnen und -partner spontan und unabhängig voneinander, um ein starkes Gefühl zu beschreiben, das sie über Wochen und Monate zu Überstunden antrieb, obwohl das niemand explizit von ihnen verlangt hatte. Eine Erfahrung, die von den Betroffenen nicht als beflügelnd und euphorisierend, sondern als belastend und ungesund empfunden wurde.
Wir setzen uns mit Jörg Friedrich vor das Mikrofon. Der Berliner hat als Gründer des Indie-Teams Paintbucket Teams (Through the Darkest of Times) nicht nur Erfahrungen mit der Führung eines Teams, sondern kennt als langjähriger AAA-Entwickler auch die Arbeitsrealitäten in den teuersten Projekten der Branche.
Für ihn ist der Begriff »intrinsischer Crunch« falsch gewählt, weil er der Ursachen der vermeintlich freiwilligen Mehrarbeit ausblendet: »Meiner Erfahrung nach sind die Gründe, warum Angestellte nicht mehr auf sich selbst achten, sich übernehmen und ihre Grenzen überschreiten, immer mit äußeren Faktoren verknüpft - außer natürlich jemand sagt wirklich ganz bewusst zu sich selbst: Ich bringe mich jetzt selbst mal an mein Äußerstes.«
Laut Friedrich sind diese äußeren Faktoren vielschichtig und verbergen sich in ganz unterschiedlichen Bereichen des Arbeitsalltags in der Spieleentwicklung: »Entweder es heißt explizit: Du musst das schaffen, und wenn du das nicht schaffst, dann passiert etwas Schlimmes. Das erzeugt Druck auf den Empfänger dieser Ansagen. Oder Mitarbeiter machen sich selbst Druck aus Angst vor den Folgen für sich, ihr Team oder das ganze Projekt, falls sie scheitern.« Das letztgenannte Szenario sei nach Friedrichs Erfahrung besonders häufig die Ursache für das Gefühl, welches viele unserer Interviewpartner als »intrinsischen Crunch« umschreiben.
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