- Indie-Entwickler und AAA-Veteran Jörg Friedrich befürchtet eine Verwässerung des Crunch-Begriffs, der fälschlicherweise mit »Überstunden« gleichgesetzt wird - dafür sei auch der Release von Cyberpunk 2077 verantwortlich.
- Mehrere ehemalige Mitarbeiter von Daedalic werfen dem Hamburger Entwickler und Publisher jahrelange Crunch-Phasen in verschiedenen Projekten vor.
- Carsten Fichtelmann, Geschäftsführer von Daedalic, weist die Vorwürfe der ehemaligen Kollegen zurück und verweist auf unzufriedene Ex-Mitarbeiter.
- Unsere Gespräche mit Entwicklern und Entwicklerinnen legen nahe, dass bereits an den Universitäten Crunch von Lehrpersonal normalisiert wird. Studienabgänger verlassen die Uni entweder ausgebrannt oder fest entschlossen, nie wieder crunchen zu wollen.
Eines Morgens im Jahr 2013 verpasst Mareike* ihren Bus, der sie zu ihrem Arbeitsplatz bei Daedalic Entertainment bringen sollte. Sie erscheint sieben Minuten zu spät im Büro des Hamburger Entwicklers und Publishers, in dem sie seit einigen Monaten als Game-Design-Praktikantin arbeitet.
Dort wird sie schon erwartet: Die Personalchefin sitzt mit einem Klemmbrett an der Tür, um alle Verspätungen zu notieren. Kurz darauf zitiert sie Mareike in ihr Büro und ermahnt sie, in Zukunft pünktlich zu erscheinen.
*Name von der Redaktion geändert
Was beide Frauen zu diesem Zeitpunkt wussten, aber hier offenbar nicht zählte: Mareike hatte am Tag zuvor bereits über zehn Stunden gearbeitet und erst um 23 Uhr das Büro verlassen. Sie steckte mitten im Crunch und beschreibt dieses Gespräch mit der Personalchefin als den Tiefpunkt ihres gesamten Arbeitslebens: »In dem Moment wusste ich, dass ich da niemals bleiben werde, selbst, wenn das eine Option wäre.«
Diese Szene stammt aus einem der vielen Gespräche, die GameStar in den vergangenen Wochen mit Entwicklerinnen und Entwicklern geführt hat. Wir wollten recherchieren, wie weit Crunch als strukturelles Phänomen in der deutschen Spielebranche verbreitet ist - und was Verantwortliche tun, um ihre Angestellten zu schützen.
Unsere Recherchen zeigten auf, dass die Geschichte von Mareike kein Einzelfall ist und trotz geltendem Arbeitsrecht immer wieder auf die Leidensfähigkeit der Mitarbeiter gebaut wird, um selbst nahezu unmögliche Deadlines noch zu erfüllen. Die Ursachen dafür sind vielfältig - und reichen bis in die Hörsäle der Nachwuchsgeneration.
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Der Autor
Dom Schott ist freier Journalist und beschäftigt sich seit Jahren mit den Arbeitsrealitäten von Spieleentwicklern. Für sein eigenes Podcast-Magazin OK COOL ging er bereits der Frage nach, warum die Spielebranche ohne Crunch nicht auszukommen scheint und welche Verantwortung hier der Spielejournalismus trägt. Um das herauszufinden, sprach er mit Michael Graf, Christian Schmidt und weiteren Experten, die diesen GameStar-Report über Crunch in der deutschen Spielebranche abrunden.
Crunch ist die Hölle für Körper und Psyche
Das Phänomen »Crunch« begleitet die Spielebranche seit ihren Anfängen und beschreibt eine Phase der intensiven Mehrarbeit, die über Wochen oder sogar Monate andauern kann. Zuletzt drängte der Release von Cyberpunk 2077 den Begriff in die Schlagzeilen, nachdem einige Mitarbeiter des Entwicklerteams CD Projekt Red gegenüber der Website Bloomberg von anhaltenden Crunch-Phasen berichtet hatten.
Im Zuge der öffentlichen Diskussion über diese Berichte taucht dabei auch immer wieder der Begriff »Überstunden« als Synonym für Crunch auf - eine unzutreffende Gleichsetzung, die langfristig sogar viel Schaden anrichten kann, wie Jörg Friedrich glaubt.
Der Gründer des Indie-Studios Paintbucket Games (Through the Darkest of Times) kritisiert im GameStar-Interview den sorglosen Umgang mit den beiden Begriffen: »Das hört man häufig: Ich habe zwei Tage Überstunden gemacht und gecruncht. Aber das ist kein Crunch. Crunch ist ein extremes Maß an Überstunden über Monate und mit mehr als 60 Arbeitsstunden pro Woche. Das sollte unterschieden werden von ›Ich habe gestern mal lange gearbeitet‹.«