Es gibt einen absolut wahnwitzigen Film, der mir lieber ist als alle Marvel-Spektakel zusammen

Unser Autor ist verknallt: in Filme von A24. Jetzt hat ihn die Redaktion auch »Everything Everywhere All at Once« gucken lassen – und seitdem kriegt er sich nicht mehr ein.

GameStar-Autor Alex liebt viele der Filme von Ari Aster und A24. Jetzt hat er auch endlich »Everything Everywhere at Once« aus dem Jahr 2022 gesehen - und kann ihn nur jedem empfehlen. GameStar-Autor Alex liebt viele der Filme von Ari Aster und A24. Jetzt hat er auch endlich »Everything Everywhere at Once« aus dem Jahr 2022 gesehen - und kann ihn nur jedem empfehlen.

»Wenn wir bedenken, dass wir alle verrückt sind«, soll Mark Twain einmal gesagt haben, »ist das Leben erklärt«. Das gilt im Guten wie im Schlechten und erklärt auch die Tatsache, dass es Filme wie »Everything Everywhere All at Once«, gibt, die an Verrücktheit kaum zu überbieten sind.

»Everything Everywhere All at Once« ist ein Film des Produktions- und Filmverleihstudios A24, das seit Jahren – beispielsweise mit Ari Aster und Robert Eggers Filmen – versucht, einem den Verstand und sämtliche Vernunft auszutreiben, was auch hervorragend gelingt.

Das Studio und seine Filmschaffenden sind dafür bekannt, so viele vage Metaphern zu benutzen, bis man die eigentliche Handlung des Films im Internet nachschlagen muss. Und der erfolgreichste Film dabei war: »Everything Everywhere All at Once«. Weltweit hat er über 129 Millionen US-Dollar einspielt, sieben Oscars gewonnen und damit die Vermutung bestätigt, dass es an Verrückten auf dieser Welt wirklich nicht mangelt.

Alexander Krützfeldt
Alexander Krützfeldt

Alexander Krützfeldt hat vier Bücher geschrieben, ein Drehbuch, und zwei Bücher unter anderen Namen, worüber er nicht öffentlich sprechen darf, was aber cool ist. Ein Geheimagent seiner Majestät. Darüber hinaus schreibt er für GameStar am Thema vorbei, für die Zeit, das Zeit Magazin und die FAZ. Das ist cool und klingt super. Dafür war er Jahre nicht mehr im Urlaub, aber das geht schon. Irgendwie.

Die Handlung ist schnell erklärt (spoilerfrei): Die Hauptfigur, die chinesische Einwanderin Evelyn Wang, betreibt in einer US-amerikanischen Stadt einen Waschsalon. Beim Einreichen ihrer Steuerunterlagen wird sie in ein Abenteuer verwickelt, in dem sie sich mit dem Multiversum auseinandersetzen muss. So weit, so normal für Eingewanderte in den USA oder hierzulande.

Evelyns Tochter ist ein bisschen depressiv, wo das in ihrem Alter auch nicht ungewöhnlich ist, wenn du irgendeinen Schmerz in der hast, aber noch nicht weißt, dass die echte, die richtige Verzweiflung erst mit dem Alter beginnt, und auch ihr Ehemann Waymond ist eher ein passiver Mensch und nicht gerade ein Hauptgewinn, den man über der Schulter nach Hause tragen möchte.

Als wäre die Prämisse des Films also nicht schon absurd genug, der Film setzt selbstverständlich noch einen drauf. Er spielt mit Matrix, Bollywood und reanimiert nebenbei den alten Kung-Fu-Film in all seinem Glanz wieder zum Leben, dass Bruce Lee seine wahre Freude hätte. Der Film, so könnte man sagen, möchte sich sämtlichen Zuschreibungen verschließen und nicht kohärent ausgelesen werden. Das ist, milde gesagt, super. Sonst hätten wir auch keinen Franz Kafka bekommen.

Everything Everywhere All at Once - So einen Trailer sieht man nicht alle Tage Video starten 2:51 Everything Everywhere All at Once - So einen Trailer sieht man nicht alle Tage

Ein unvergesslicher Trip

Ich persönlich liebe Geschichten, die nicht an ihrem Plot entlang, sondern in Ausschweifungen erzählen. Das ist so, als ob jemand mit ADHS sagt, er kenne da einen tollen Ort zum Urlaub machen, und anschließend googelt er, wer Uruguay in den 1970er regiert hat. Das ist dann auch keine kohärente Geschichte mehr, aber Ausschweifen bedeutet Lebensfreude! Die ganze Nacht tanzen. Bunte Klamotten, im zitternden Neonlicht einer abgelegenen Dschungelparty.

Ungefähr so ist auch »Everything Everywhere All at Once«. Ein Trip. Wie Ari Asters »Hereditary« ein Trip war, oder »Midsomar«. Aber anders als diese beiden, und das ist vielleicht seine Stärke, bleibt er am Schluss nicht vage. Erzählt dieser Film zu Ende. Denn während in »Hereditary« und »Midsomar« zwar lustig war, dass das Metaphern- und Anspielungsgewitter ordentlich trommelte wie Regen auf dem Blechdach, war doch nervig, dass die Geschichte immer offen und vage blieb, wo sie eine gewisse Deutlichkeit vertragen hätte.

»Everything Everywhere All at Once« hat mich am Schluss regelrecht zu Tränen gerührt. Denn hier wurde eine total durchgeknallte Grundlage genutzt, um den Konflikt und die Figurenentwicklung am Ende doch noch weltlich, real, greifbar und handwerklich sauber abzuwickeln. Der Film endet ganz anders als sein Anfang vermuten lässt: ganz bodenständig. Und das ist doch das Schöne am Kino, wenn man – bei all diesen Marvel-Filmen – endlich mal wieder überrascht wird.

Der ganz normale Wahnsinn: Jamie Lee Curtis als Sachbearbeiterin im Finanzamt. Der ganz normale Wahnsinn: Jamie Lee Curtis als Sachbearbeiterin im Finanzamt.

Keine Angst vor Neuem

Ich bin deshalb so ein großer Fan von A24-Filmen, weil sie den Mut haben, Genres wie den Horrorfilm neu zu beleben. Nicht jeder Film ist gleich gut, klar. Und nicht jede Lobeshymne würde ich so unterschreiben, auch wenn meine Meinung da jetzt nicht besonders zählt.

Aber es ist wie mit den Autorinnen Samatha Schweblin, Mariana Enríquez und Mónica Ojeda, drei Schriftstellerinnen, die gerade den lateinamerikanischen Horror-Roman neu beleben: din bisschen Feminismus, ein bisschen Abenteuer und Experimente und neue Stimmen, und das Alte strahlt praktisch in neuem Glanz. »Hundert Augen« von Samatha Schweblin hat mich wirklich fasziniert. Und ich lese sonst alles. Kenne also auch vieles.

Man muss vielleicht diesen Besessenen zugutehalten, wie ernst sie es meinen, und wie viel sie damit schaffen. Der Horrorfilm beispielsweise war und ist tot, meiner Meinung nach. Lächerliche Sequels und Plots, die mit haarsträubend schlecht unzureichend umschrieben sind.

Aber das, was nie aus Stephen-King-Romanen gemacht worden ist, ein brillanter und innovativer Horrorfilm, nichts mit Geistern, sondern mit Zersetzungsprozessen einer Familie – jajaja, »Shining« war ganz okay – das schafft Ari Aster in »Hereditary« sehr wohl. Und das schafft »Everything Everywhere All at Once« mit dem Familien- und Liebesfilm.

Im Kern der wahnwitzigen Multiverse-Erzählung stecken Chraktere und Probleme, mit denen wir alle etwas anfangen können. Im Kern der wahnwitzigen Multiverse-Erzählung stecken Chraktere und Probleme, mit denen wir alle etwas anfangen können.

Am Ende, ganz am Ende dann, als klar wird, worum es dem Film geht, musste ich wirklich mal weinen. Und das ist nicht nur vor dem Fernseher Jahre her. Ich war so gerührt davon, welche Bedeutung er über uns auskippt, ganz am Ende, nach all den Wirren und Verwirrungen seines Plots, und was das bedeuten könnte.

Für mich, für uns, für eine Gesellschaft, die mittlerweile voller Verrückter ist. Und damit meine ich jetzt wirklich die schlechten. Dass wir die positiv Verrückten brauchen, damit sie uns fortträumen. Damit sie uns nicht im Stich lassen. Damit sie uns eine Hoffnung geben, wo wenige Hoffnungen sind.

Denn vielleicht, ganz vielleicht, muss man heutzutage schon sehr verrückt sein, um das alles aushalten zu können. Der Film gibt eine Antwort, was es braucht. Und das, was er sagt, ist vielleicht der wahre Wert von Kultur. Warum man das überhaupt braucht: Schlechte Bezahlung akzeptieren und bis ins hohe Erwachsenenalter prekär leben, während die Schulfreunde einen mit dem Porsche überholen und in den All-Inklusive-Urlaub fahren.

Neulich saß ich mit einem sehr guten Freund zusammen, ebenfalls Schriftsteller. »Warum«, frage ich nach dem vierten Bier, »machen wir das überhaupt? Wir schreiben an solchen Geschichten Monate oder gar Jahre. Am Ende verkauft es sich nicht. Am Ende ärgern wir uns. Was ist der Sinn?«

Da schaute er mich an und in seinem Blick war etwas Liebevolles: »Weil wir im besten Falle trösten können«, sagte er. Und das, denke ich, stimmt. Noch mehr, seit ich »Everything Everywhere All at Once« gesehen habe. Trost ist, was wir brauchen. Mehr Trost denn je.

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