Kann ich in Cyberpunk 2077 eigentlich »die Guten« spielen? Kann ich als edle Heldin oder edler Held durch Night City schweben, Recht und Gesetz bewahren, die Schwachen beschützen und den Bösen vergeben? Diese Fragen schallten nach meinem Anspieltermin häufiger aus Artikel- und Livestream-Kommentaren.
Und ich muss gestehen, ich fühlte mich ertappt.
Denn darüber habe ich mir beim Cyberpunk-Spielen gar keine Gedanken gemacht, obwohl mir die edle Spielweise entgegen käme, weil ich in Rollenspielen grundsätzlich den gütigen Weltenretter von nebenan verkörpere. In Mass Effect konnte ich gar nicht anders, als jedes Mal reflexhaft Sanftmut zu versprühen, wenn eine Paragon-Option aufploppte.
Okay, außer das eine Mal in Mass Effect 3, als ich Mordin Solus erschossen habe, aber das nagt auch bis heute an meinem Gewissen. Laut einem ehemaligen Cinematic Designer von Mass Effect 2, 3 und Andromeda war ich mit meinem Edelmut nicht alleine, rund 92 Prozent aller Shepards sollen als berufsfreundliche Planetenhelfer gespielt haben:
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Auch in The Witcher 3 kann ich den knurrigen Geralt zum Guten biegen, dankbaren Witwen ihr Geldsäckel zurückgeben (»Euer Dank ist Lohn genug!«) und zumindest versuchen, »das Richtige« zu tun - was zugegebenermaßen einfacher ist als in The Witcher 1 und 2.
Dass etwa der irre Hexenverbrenner Radovid in The Witcher 3 vom Thron entfernt werden muss, liegt auf der Schwerthand. Ja, er bietet als Einziger den Invasoren aus Nilfgaard die Stirn, aber die wirken gar nicht so schlimm. Ihr Kaiser mag machtversessen sein, hinterlässt im Gespräch aber einen vernünftigen Eindruck. Die beiden Witcher-Vorgänger spielten viel mehr mit Grauschattierungen, alleine der Anfang von The Witcher 2, an dem ich mich im Prinzip zwischen zwei Massakern entscheiden musste. Aber ach, mit Diskussionen über die Story der Witcher-Spiele könnte man einen ganzen Podcast füllen. Was wir auch getan haben.
Zurück zum entscheidenden Punkt: Wenn ein Spiel mich lässt, versuche ich, Gutes zu tun. Doch lässt mich Cyberpunk 2077 überhaupt? Unabhängig von meiner Ursprungsgeschichte als Konzernknecht, Straßenkind oder Nomade starte ich ja als Straßenkrimineller und suche mein Söldnerglück in Night City. Aufträge bekomme ich von Fixern, jenen unterweltlichen Strippenziehern, die... sagen wir, sie haben nicht unbedingt das Gemeinwohl im Sinn. Auch im weiteren Spielverlauf werden die Fixer eine wichtige Quelle für Nebenmissionen bleiben, die sogenannten »Gigs«. Und die dürften selten legale Aktivitäten umfassen.
So lassen meine Erlebnisse im Prolog von Cyberpunk 2077 und die anderen Quests, die CD Projekt bislang gezeigt hat, zumindest Rückschlüsse darauf zu, wie gut ihr im Spiel handeln könnt. Das geht nämlich, ihr müsst dafür nur das Gut-Böse-Schema ablegen, das euch vor allem Bioware-Rollenspiele antrainiert haben.
Der Autor
Michael Graf versucht immer, Blutvergießen zu vermeiden, wenn ihm das Spiel die Möglichkeit dazu gibt. In klassischen Rollenspielen ist »Charisma« daher sein Lieblings-Charakterwert, und in Dishonored hat er sogar Kampfhunde mit Betäubungspfeilen ins Reich der Träume verfrachtet. Wenn es ein Moralsystem gibt, spielt er grundsätzlich gute Charaktere - er bringt es einfach nicht übers Herz, unschuldige NPCs übers Ohr zu hauen. Nur mit Diebstahl hat er in Rollenspielen seltsamerweise kein Problem. Was er klaut, dient ja schließlich einem höheren Zweck: der Rettung der Welt!
Niemand muss sterben
Bekanntlich hat Cyberpunk 2077 kein Moralsystem à la Mass Effect oder Knights of the Old Republic, die mir nach Entscheidungen mit Gut-Böse-Punkten auf die Schulter klopfen oder schimpfen: »Das hast du aber edel/niederträchtig gelöst, Micha!« Anders als in den beiden Bioware-Urgesteinen muss in Cyberpunk 2077 aber auch niemand sterben.
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