Als Daggerfall 1996 erscheint, kommt es einer Genre-Revolution gleich: 15.000 Städte, 750.000 NPCs und eine circa 480.000 Quadratkilometer große Spielwelt - selbst nach heutigen Maßstäben ein buchstäblich atemberaubender Umfang. Zwar begann die Elder Scrolls-Reihe offiziell bereits zwei Jahre zuvor mit Arena, allerdings gilt Daggerfall unter Fans nach wie vor als wahre Geburtsstunde der Sandbox-Rollenspiel-Serie, als Urvater von Morrowind, Oblivion und Skyrim. Und das völlig zu Recht - denn Dagerfall lässt schon damals aufblitzen, was seine Nachfolger später zur Vollendung bringen sollten. Ungeahnte spielerische Freiheit nämlich und eine riesige Welt zum Eintauchen, Erkunden und sich drin Verlieren.
Dabei war diese riesige Welt im Grunde lediglich eine simple Zahlenfolge: Nahezu sämtliche Dungeons, Städte, Figuren, Kisten oder Landschaften waren völlig zufällig zusammengewürfelt und wirkten deshalb so lebendig wie ein in Formaldehyd aufgespießter Schmetterling. Der atemberaubende Umfang - ein Blender.
Hatte man ein Dorf gesehen, hatte man auch alle 14.999 anderen Nester gesehen, und hatte man eine Höhle erkundet, dann hatte man irgendwie auch alle anderen Höhlen erforscht. Weil die Versatzstücke nämlich beinahe identisch waren und Bethesda sich herzlich wenig Mühe gab, den Mangel an Handarbeit zu maskieren. Indes: Unter der seltsam seelenlosen Fassade versteckte sich ein ungeschliffener Diamant.
Ein Spiel wie eine Weihnachtsgans
Hatten wir erst einmal herausgefunden, wo wir eigentlich hin sollten und was wir dort machen mussten (ein Unterfangen, bei dem die zahlreichen Bugs nicht unbedingt hilfreich waren), entfaltete Daggerfall in Windeseile ein immenses Suchtpotenzial. Schon das Skill-System war 1996 eine reine Offenbarung: Wo wir in anderen Rollenspielen mit abstrakten Erfahrungspunkten belohnt wurden, wenn wir brav das machten, was das Spiel gerade von uns wollten, nickte uns Daggerfall anerkennend zu, wenn wir das machten, wozu wir verflixt nochmal Lust hatten. Ein Rollenspiel, das einen Kämpfer für Kämpfen belohnt, und einen Magier fürs Zaubern, einen Dieb fürs Klauen? Das war neu, das war aufregend, das war originell.
Und es war kaputt. Wer erst einmal spitzgekriegt hatte, wie Daggerfall funktionierte, der konnte die Mechanik ausnehmen wie eine Weihnachtsgans. So folgten alle Händler des Spiels einem festgelegten Öffnungszeiten-Rhythmus - im Jahr 1996 keineswegs selbstverständlich. Da besagte Händler allerdings bloß als zweidimensionales Sprite hinter der Ladentheke existierten und pünktlich zum Feierabend den NPC-Betrieb einstellten, durften wir uns ungeschoren bis nach Ladenschluss im Geschäft lümmeln, sämtliche Regale plündern und den eben geklauten Krempel am nächsten Morgen postwendend zurück an den völlig ahnungslosen Händler verkaufen - ohne die Bude auch nur einmal zu verlassen.
Hatten wir uns hingegen ein eigenes Haus gekauft, um zum Beispiel überschüssigen Plunder aufzubewahren, dann mussten wir höllisch aufpassen, diesen Plunder nicht aus Versehen in eine Kiste zu stecken. Daraus verschwand er nämlich, und zwar auf Nimmerwiedersehen. Wer seine Ebenholz-Axt behalten wollte, warf sie deshalb achtlos auf den Boden; vermutlich guckten die unsichtbaren Einbrecher da nicht hin.
Fürchterlichkeit allerorten
Überhaupt fand Daggerfall diebischen Gefallen daran, gewissen Figuren unsagbar fürchterliche Schicksale zuteilwerden zu lassen. Vampiren, zum Beispiel. In der ausgewachsenen Variante gehörten die zusammen mit uralten Liches nämlich zu den eigentlich fiesesten Gegnern im Spiel. Eigentlich deshalb, weil sie einen Auflösen-Zauberspruch draufhatten, der uns im wahrsten Sinne des Wortes pulverisiert hätte, wenn da nicht der damals wie heute innovative Zauberspruch-Baukasten gewesen wäre.
An dem konnten wir uns, ein hohes Ansehen in der Magier-Gilde vorausgesetzt, ganz individuell eigene Sprüche zusammenbasteln. Etwa einen »Reflektiere alles zurück auf den Vampir«-Schutzschild. Lustige Konsequenz: Wir spazierten fröhlich pfeifend um eine Dungeon-Ecke, und alle anwesenden Vampire lösten sich unter großem Hallo von alleine auf. Was in der Regel dazu führte, dass ihre Lich-Kumpels mal gucken kamen, wer da so einen Krach macht, um solidarisch gleich mit zu verpuffen.
Es waren solche Details, die den Ausflug nach Daggerfall trotz der riesig-sterilen Spielwelt so einzigartig machten. Wo sonst konnten wir unsere eigenen Zaubersprüche basteln? Eigene magische Gegenstände zusammenbauen? Oder hoch zu Ross durch die Hauptstadt levitieren, weil das aus vollkommen unerklärlichen Gründen schneller ging als zu reiten?
Wo sonst konnten wir einer Meuchelmörder-Gilde beitreten (zugegeben: bei 750.000 NPCs war das irgendwie naheliegend), zum Vampir werden, zum Werwolf oder zum Wer-Eber, was allerdings schrecklich albern aussah. Wo sonst konnten wir ein Schiff kaufen und ein Haus, in dem wir besser überhaupt nichts aufbewahrten? Und wo sonst konnten wir einen Spielstand völlig unbrauchbar machen, indem wir eine Quest ablehnten?
Game of Thrones mit Würmerkönig
Nein, Sie haben sich nicht verlesen: Wenn wir irgendwann beschlossen, dass wir jetzt genug Zufalls-Dungeons gesehen hatten, stattdessen der Hauptstory folgen wollten und einen wichtigen NPC ansprachen - dann konnten wir uns das ganze Spiel damit versauen, dass wir auf die unweigerlich vorgetragene Quest mit einem »Nö, jetzt echt nicht, aber später vielleicht« reagierten. Das mochten die NPCs gar nicht, da waren sie beleidigt. Mitunter so beleidigt, dass sie uns die entsprechende Quest nie wieder gaben.
Bis auf den »King of Worms« natürlich. Das war der Herrscher über die Untoten, und der tat nix lieber als uns die gleiche Quest immer wieder zu geben - auch wenn wir sie schon längst beendet hatten. Da war er beharrlich, der Würmerkönig. Wir ließen ihm das allerdings durchgehen, denn in seinem Thronsaal wimmelte es förmlich von Vampiren und Liches, und die lösten sich ja so schön auf, wenn wir mal wieder vorbeikamen.
Der heutige Skyrim-Spieler mag sich übrigens wundern, dass die Geschichte von Daggerfall wenig am Hut hatte mit epischem Drachen- und Dämonen-Trara,sondern einen sehr intimen Mystery-Plot erzählte, der eher an George R. R. Martin erinnert als an J. R. R. Tolkien.
Wenn Ihnen also in Zukunft jemand erzählt, dass die Elder Scrolls-Reihe ja noch nie eine komplexe Story geboten habe, dann schicken Sie ihn ohne Essen ins Bett, denn die Handlung von Daggerfall war großartig. Wir mussten nicht nur einem Königsmörder auf die Schliche kommen - nein, wir durften sogar entscheiden, wer am Ende die Welt regiert. Ach, das war eine Qual von Wahl! Nur der »King of Worms«, der schied von vorneherein aus …
Komplett in Deutsch (nicht)
Wer den mittelalterlichen Verschwörungs-Plot verstehen wollte, musste allerdings über gute Englisch-Kenntnisse verfügen, denn eine deutsche Version war zwar angekündigt, erschien aber zunächst nicht. Die Gerüchteküche brodelte: Angeblich hatte der zuständige Übersetzer die gewaltige Textmenge gesehen, einen fürchterlichen Schreck bekommen und sich bei Nacht und Nebel aus dem Staub gemacht. Diese Räuberpistole erscheint gar nicht abwegig, schließlich verkündete die deutsche Packungsrückseite großspurig: »Komplett in Deutsch (über 250.000 Wörter)«.
Der grobe Etikettenschwindel sorgte 1996 für einen kleinen Skandal, legt aber die Vermutung nahe, dass Bethesda selbst völlig überrumpelt wurde und die irreführenden Verpackungen bereits produziert waren. In Kombination mit den zahlreichen Bugs (das grandios überambitionierte Projekt war unter den damaligen Bedingungen einfach nicht fehlerfrei zu kriegen) wurde Daggerfall nur leidlich zum Erfolg und Bethesda widmete sich anschließend den beiden im Elder Scrolls-Universum angesiedelten Action-Adventures Battlespire und Redguard. Erst sechs Jahre später trauten sich die Entwickler mit Morrowind wieder an ein Rollenspiel-Schwergewicht.
Dieser Artikel erschien bereits Ende 2011 in unserem Sonderheft zu Skyrim.
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