Seite 2: World of Warcraft: Wie die MMO-Sucht meine Familie zerstört hat

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Manchmal saß ich einfach nur untätig in Sturmwind herum und habe mit den unzähligen Charakteren meines Vaters gechattet. Die Nachrichten ließen nie lange auf sich warten. Manchmal saß ich einfach nur untätig in Sturmwind herum und habe mit den unzähligen Charakteren meines Vaters gechattet. Die Nachrichten ließen nie lange auf sich warten.

Die ersten Probleme

Es ist nicht leicht, ein Problem überhaupt erst zu erkennen, wenn man damit so wahnsinnig viel Spaß hat. Wir haben die Nächte durchgezockt und trafen uns alle paar Stunden in der Küche. Sandwiches, eimerweise Frühstücksflocken, lebenswichtiges Koffein. Die geilen Schokoriegel von Lidl, mit dem Keks drin.

Spielen bis die Sonne aufgeht, dann bis zum Nachmittag durchpennen. Und direkt wieder WoW. Das ist ein perfektes Wochenende mit Kumpels auf einer LAN-Party, aber als Familie ist das für alle um dich herum arg stressig. Besonders dann, wenn Dinge wie Geld oder Bildung eine Rolle in deinem Leben spielen.

Mein Vater verbrachte zu wenig Zeit mit meiner Stiefmutter und vernachlässigte seine Arbeit. Mein Stiefbruder bekam in der Schule nichts auf die Reihe und hatte Stress mit seiner Freundin, die schließlich mit ihm Schluss machte.

Ich kaufte derweil eine weitere Version des Spiels und schenkte sie meinem anderen Bruder zu Weihnachten - immerhin brauchten wir noch einen dedizierten Heiler - der das Spiel darauf umgehend weiterverkaufte, weil er sich auf sein Abi konzentrieren wollte. Wie albern, ist doch nur ein Spiel!

Mit Freunden und Familie zocken wir heute noch gemeinsam GTA. Zu Halloween haben wir uns als unsere Charaktere verkleidet. Mit Freunden und Familie zocken wir heute noch gemeinsam GTA. Zu Halloween haben wir uns als unsere Charaktere verkleidet.

Es war bizarr. Ich verbrachte fast jedes Wochenende bei meiner Familie, wir blieben die ganze Nacht wach und spielten WoW. Bei meinen gelegentlichen Trips zur Küche sah ich ab und zu meine Stiefmutter, mitten in der Nacht, die mit einem Bacardi allein im stockfinsteren Wohnzimmer saß.

Rückblickend ist das keine große Überraschung. Es ist Wochenende, mitten in der Nacht. Ihr Mann ist nicht im Bett, sondern zockt durch. Mal wieder. Wenn er endlich nachkommt, steht sie wieder auf.

Damals war mir das relativ egal, weil - fuck yeah, Scholomance! Rüstungssets! Dann zum ersten Mal im 40er-Raid durch Molten Core. Ragnaros ließ einen epischen Dolch fallen und ich bin damit durch Ironforge spaziert (als Krieger!) als hätte ich den heiligen Gral entdeckt! Wildfremde Spieler haben mich angeflüstert und mir gratuliert.

Damals gab's die Epics noch nicht einfach so beim Einloggen per Post. Das soll gar nicht heißen, dass ich in dem Moment irgendwas Besonderes geleistet hätte. Im Gegenteil - ich war objektiv einer der miesesten Krieger auf dem Server. Aber das Gefühl war echt unbeschreiblich. Wenn du endlich auch mal einer dieser Brückenpfeiler-Volltrottel vorm Autkionshaus bist und dann erbarmt sich einer und schreibt: »Hey, cooler Dolch!« Und meint es vielleicht nicht ironisch.

The Elder Scrolls Online spiele ich mit meiner Freundin und ihrer Mutter, Tante und Schwester! Ähm ... das sind alles unterschiedliche Personen, wir sind nicht Familie Fritzl. The Elder Scrolls Online spiele ich mit meiner Freundin und ihrer Mutter, Tante und Schwester! Ähm ... das sind alles unterschiedliche Personen, wir sind nicht Familie Fritzl.

WoW im Büro spielen

Klar hatte ich auch ein Problem. Ich war damals in einer kaufmännischen Ausbildung. Ich habe sämtliche IHK-Prüfungen im Schlaf abgelegt, ohne Vorbereitung, ohne zu lernen, weil die Materie lächerlich einfach für mich war. Meine Abschlussprüfung hatte ich um ein Jahr vorgezogen, einfach weil es ging.

Übernommen hat mich mein Ausbildungsbetrieb trotzdem nicht. Das könnte damit zu tun haben, dass ich World of Warcraft auf dem Firmenrechner installiert habe. Selbstverständlich habe ich nur während der Mittagspause gespielt. Aber der Chef sieht keinen Azubi, der eine Stunde Pause macht. Der Chef sieht einen Azubi, der im Büro WoW spielt.

Ich wanderte von der abgeschlossenen Berufsausbildung direkt in die Arbeitslosigkeit. Mein Stiefbruder blieb in der Schule sitzen. Meine Eltern mussten umziehen, weil sie Miete und Rechnungen nicht bezahlen konnten. Für meinen Stiefbruder hatte es sich mit der Begeisterung für MMOs damit erst mal erledigt. Ich besuchte meine Familie nur noch ohne Rechner. Aber dort ging es jetzt erst richtig bergab.

Auch Path of Exile zocken wir regelmäßig als Familie. Na, könnt Ihr erraten, welcher Spieler im Bild den Cash-Shop nutzt? Auch Path of Exile zocken wir regelmäßig als Familie. Na, könnt Ihr erraten, welcher Spieler im Bild den Cash-Shop nutzt?

Mein Vater schlief die meiste Zeit auf dem Sofa. Wie bei glücklichen Paaren halt so üblich. Das ignoriert man, geht mich nichts an, meine Eltern regen sich auch wieder ab, das Leben geht weiter. Bis Heiligabend. Geschenke. Abendessen. Gespräche über Gott und die Welt.

Dann stand mein Vater plötzlich vom Esstisch auf und ging. Raid. Er war inzwischen in einer Gilde - und die spielte auch zu Weihnachten. Warum auch nicht, Weihnachten und Neujahr werden schließlich auch in Azeroth gefeiert.

Die Atmosphäre im Haus meiner Eltern war wie in einem Thriller. Mein Vater sitzt vorm Rechner. Meine Stiefmutter kommt rein. Tödliche Stille, die beiden schauen einander nicht mal an. Hier und da mal ein Moment Normalität, wenn mein Vater um einen Kaffee bittet und meine Stiefmutter ihn tatsächlich bringt, bitteschön, dankeschön, menschliche Interaktion, endlich reden sie mal. Half natürlich nichts.

Seit August 2018 erkennt die Weltgesundheitsorganisation WHO Spielesucht offziell als Krankheit an. Seit August 2018 erkennt die Weltgesundheitsorganisation WHO Spielesucht offziell als Krankheit an.

Bei einem meiner Besuche war es dann soweit und meine Stiefmutter versammelte uns, um uns etwas Wichtiges mitzuteilen. Ich ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen. »Ihr habt euch endlich scheiden lassen?« Social Skills gehörten noch nie zu meinen Stärken. »Oh, hat es dir dein Vater schon erzählt?«

Musste er überhaupt nicht. Ich war ja nicht blind. Sie versuchten dann noch, das vor uns als eine finanzielle Entscheidung zurechtzudrehen, irgendwas mit Schulden, Steuern, was auch immer.

Meine Stiefmutter und ich standen einander nie besonders nahe. Ich denke, dass sie mich bis heute verachtet, weil ich der Anstifter war. Ich habe meinen alten Herrn in dieses Spiel gebracht, kam jedes Wochenende vorbei und spielte mit ihm die Nächte durch.

Zu unserer Rotation gehörte auch Star Trek Online. Viel wichtiger ist aber der Alien-Gnom rechts im Bild, der eine gigantische Frau liebkost. Zu unserer Rotation gehörte auch Star Trek Online. Viel wichtiger ist aber der Alien-Gnom rechts im Bild, der eine gigantische Frau liebkost.

Flucht in die Sucht

Natürlich war WoW nicht das wirkliche Problem. Früher waren wir steinreich, aber durch die Wirtschaftskrise zog mein Vater einfach keine fetten Aufträge mehr an Land und machte keine Kohle. Sein Haar wurde jeden Tag etwas grauer und etwas lichter. Keine Haare mehr, kein Biss. Midlife-Crisis.

Die Rechnungen stapelten sich und wo es Geldprobleme gibt, da leidet für gewöhnlich auch die Beziehung. Und dann ist da Azeroth, wo du ein Held bist, ein Drachentöter, wo deine Freunde, deine Gilde, vielleicht der ganze Server über deine Taten spricht, wo du nicht alterst, du keine Rechnungen begleichen musst und sein kannst, wer oder was du willst. Wäre es nicht WoW gewesen, dann eben irgendein anderes Spiel, irgendeine andere Sucht, irgendeine Form der Flucht.

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Natürlich trage ich Schuld an dem, was passiert ist. Aber ich hatte Spaß daran, die ganze Nacht lang wachzubleiben und mit meinem Vater zu zocken. Das waren die besten Wochenenden überhaupt und ich war genauso süchtig wie er selbst. Ich hätte auch mal zu Hause bleiben können. Ihm sagen können, dass er ins Bett gehen soll. Dass er mehr Zeit mit unserer Stiefmutter verbringen muss. Ob das groß was geändert hätte?

Ich war damals praktisch noch ein Kind und sehnte mich nach der Aufmerksamkeit eines Mannes, der sich nie blicken ließ, wenn ich mit der Schulband oder im Schultheater gespielt oder nach der 10. Klasse vor allen (anderen) Eltern und Lehrern die Abschlussrede gehalten habe.

Klar kann man verurteilen, dass ich seine Sucht voll unterstützt habe. Aber vor seiner Realität und seinem Alltag ist er sowieso schon geflohen, ob mit oder ohne WoW. Ich glaube allerdings nicht, dass meine Familie mir in dieser Ansicht zustimmen würde.

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