Eigentlich darf Call of Duty Modern Warfare 3 damit nicht durchkommen

Das neue Call of Duty Modern Warfare 3 spielt sich bereits in der Beta absolut fantastisch. Aber es ist auch ein Konglomerat ziemlich fieser Tricks.

Call of Duty Modern Warfare 3 ist dreist, aber auch verdammt gut. Call of Duty Modern Warfare 3 ist dreist, aber auch verdammt gut.

Letztens sitze ich in der S-Bahn und beobachte einen hochkonzentrierten älteren Herren dabei, wie er sich den Zeigefinger bis zum Anschlag in die Nase steckt, um einen hartnäckigen Popel zu erwischen, der offenbar irgendwo nah am Frontallappen feststeckt.

Er bohrt und rüttelt, hebelt und hakt wie ein kleiner Minenarbeiter - und während er danach stolz den geborgenen Schatz sorgsam zum Wurfgeschoss zusammenrollt, frage ich mich unweigerlich: Wie konnte es eigentlich so viele Jahrtausende dauern, bis jemand auf die Idee kam, dass wir mit der Tierwelt verwandt sind? Ich meine, es gibt Dutzende YouTube-Videos in denen Affen handwerklich geschickter popeln als der Herr in meinem Abteil. Wir Menschen sind manchmal so herrlich simple Kreaturen.

Aber wir sind auch komplex. Wir bauen Computer, trainieren künstliche Intelligenzen, wir studieren Jura, verstehen Filme von David Lynch, stellen uns komplexen moralischen Dilemmata - und kennen sogar den korrekten Plural von Dilemma!

Call of Duty: Modern Warfare 3 stellt mich vor so ein Dilemma, denn schon in der Beta ist das Ding der Hammer! Ich hatte noch nie so viel Spaß mit einer Shooter-Beta. Modern Warfare 3 räumt nahezu jedes Problem des Vorgängers aus der Welt, es spielt sich fantastisch, bietet grandioses Mapdesign und zieht mich schon vor Release so in den Bann, wie es das verbuggte Modern Warfare 2 erst nach zig Monaten hinbekam.

Aber Modern Warfare 3 ist auch heimtückisch. In diesem Spiel tummeln sich so ziemlich alle schäbigen Praktiken, auf die große Publisher in den letzten Jahren heimlich hingearbeitet haben. Call of Duty täuscht und trickst, es kaschiert, bauscht auf und manipuliert seine Zielgruppe, damit sie unredlich viel Geld ausgibt.

Eigentlich dürfte Call of Duty damit nicht durchkommen. Aber Menschen sind kompliziert - und das gilt auch für mich. Manchmal.

Das Mikrotransaktionspatent

Viele große Publisher haben aus ihren Fehlern der Vergangenheit gelernt. Als vor ein paar Jahren EA und Co. einfach plump Glücksspiel-Lootboxen in die eigenen Spiele klatschten, war der Aufschrei der Community groß: Ihr könnt uns doch nicht so offen das Geld aus der Tasche ziehen!

Und Publisher wie Activision haben sich gesagt: Völlig richtig, das machen wir dann in Zukunft lieber heimlich.

Dimitry Halley
Dimitry Halley

Kein anderes Spiel hat GameStar-Redaktionsleiter Dimi Halley in den letzten 12 Monaten so viele launige Abende beschert wie Call of Duty Modern Warfare 2. Er hat sich taktisch mit Kumpels im Ranked-Modus bewährt, in Shipment über das wilde Chaos gelacht, in DMZ den Kopf ausgeschaltet und im regulären Multiplayer Hunderten Kontrahenten Sticky-Granaten an die Fersen gepappt. Dimi liebt Call of Duty. Aber er verteufelt Activisions dreistes Vorgehen.

So begann die aktuelle Ära: Große Service-Spiele sind nach außen hin deutlich fairer, Lootboxen weitgehend verschwunden, Mikrotransaktionen beziehen sich fast ausschließlich auf kosmetische Upgrades, jede Season bringt kostenlose neue Inhalte. Und eigentlich finde ich das super! Wären da nicht die eher unsichtbaren Praktiken.

Das neue Call of Duty ist für manche ein Traum, für andere ein Rätsel! Video starten 11:18 Das neue Call of Duty ist für manche ein Traum, für andere ein Rätsel!

Zum Beispiel hat Activision schon vor Jahren ein Matchmaking-Patent registriert, in dem sich folgende Passage befindet:

»[...] Das System könnte beispielsweise eine Mikrotransaktions-Engine beinhalten, die Matches so beeinflusst, dass daraus Käufe resultieren. Zum Beispiel würde die Engine einen erfahrenen Spieler mit einem unerfahrenen Spieler matchen, um den Neuling zu motivieren, Waffen und andere Ingame-Gegenstände zu kaufen, die der Profi benutzt. [...]

Die Mikrotransaktions-Engine könnte ebenso analysieren, welche Items Profis nutzen - und falls diese Items im Shop rabattiert angeboten werden, diese Profis bewusst mit Leuten matchen, die die Gegenstände noch nicht gekauft haben. [...] Alternativ könnte die Engine einen Neuling mit einem Profi auf Basis des Spielerprofils matchen. Als Beispiel: Ein Spieler möchte ein guter Sniper werden, also matchen wir ihn mit einem sehr guten Scharfschützen, um den Neuling zu bekräftigen, Geld für das Equipment des Erfahrenen auszugeben.«

Ganz wichtig: Nur weil ein Patent existiert, wird es nicht automatisch verwendet. Gerade Tech-Unternehmen patentieren dauernd in weiser oder unweiser Voraussicht irgendeinen Bumms, um sich die Option offen zu halten, auf diesen Ideen später mal aufzubauen. Auch Activision hat über die Jahre immer wieder dementiert, dass das Matchmaking-Patent in seiner Gänze oder überhaupt zum Einsatz kommt (obwohl sie es weiter updaten):

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Aber: Solche Ideen lassen natürlich tief blicken und illustrieren eine Konzern-Denkweise, die sich sehr wohl negativ auf Call of Duty auswirkt.

Wie Modern Warfare 3 trickst

Call of Duty Modern Warfare 2 verschärft Season um Season seine Mikro- und Makrotransaktionen. Zum Release Ende 2022 gab es bloß einige wenige kosmetisch Skin-Bundles, mit der Zeit kamen die üblichen Battle Passes dazu, doch dann der erste Meilenstein: der neue Blackcell Battle Pass lässt sich nur für echtes Geld (keine CoD-Coins) kaufen, kostet 30 Euro und beschert euch zusätzliche Skins, die es im normalen Battle Pass nicht gibt.

In meinen Lobbys laufen unzählige Nicki Minajs herum. Zufall? Oder Algorithmus? In meinen Lobbys laufen unzählige Nicki Minajs herum. Zufall? Oder Algorithmus?

Aus der Zweiteilung zwischen regulären CoD-Spielern und Battle-Pass-Besitzern wurde also über Nacht eine Dreiteilung - und die Rechnung geht auf. Jeder neue Blackcell Battle Pass landet in den Steam-Topsellern, weil viele Spielerinnen und Spieler natürlich die besten neuen Inhalte wollen. Die Idee streut: Battlefield 2042 hat das System in seiner aktuellen Season erstmals übernommen, dort kostet der Black Cell Battle Pass zum Glück nur rund 15 Euro.

Kein Wunder, dass Modern Warfare 3 diesen Trend fortsetzt. Sollte das neue CoD wie der Vorgänger ebenfalls sechs Seasons bieten, dann gibt ein Fan, der alle Battle Passes samt Grundspiel besitzen will, bis Ende 2025 satte 250 Euro für Call of Duty aus.

Pay2Win taucht überall da auf, wo es geduldet wird

Und natürlich ist der berechtigte Einwurf immer Musst es ja nicht kaufen. Das stimmt. Aber es verkürzt die Debatte, denn Activisions Verkaufstaktiken werden trotzdem mit jeder Season subtiler und aggressiver zugleich - so ein heikler Cocktail gehört problematisiert, schließlich treffen diese Manipulationen Millionen von Menschen, davon viele minderjährig. Und ein einziges Skin-Bundle mit einem Operatoren wie Lara Croft, Skeletor oder Snoop Dogg kostet mittlerweile schließlich fast 25 Euro, es geht um viel Geld.

Skin-Bundles enthalten jetzt auch spielrelevante Vorteile für den Extraktions-Tarkov-Modus DMZ. Der ist den meisten Leuten nur so egal, dass die Entwickler keinen Shitstorm befürchten müssen. Wie auch bei EAs Ultimate Team gilt: Hier gab es kein echtes Umdenken seitens der Publisher - Pay2Win taucht überall da auf, wo es geduldet wird. Wo kein Kläger, da kein Richter.

Schon in der Beta könnt ihr nur dann alle Skins ausprobieren, wenn ihr vorbestellt habt. Schon in der Beta könnt ihr nur dann alle Skins ausprobieren, wenn ihr vorbestellt habt.

Jede Season wurde irgendein Gimmick eingeführt, um die Leute ins Spiel zu locken. Activision scheint von Tech-Riesen wie Meta oder Apple zu lernen: Engagement ist wichtiger als Spielspaß, wenn jede Interaktion mit dem Spiel erhöht die Chance, dass ich was kaufe. Die Season verkürzen sich, damit ich mehr grinden muss, es wurden befristete Events und tägliche Login-Boni eingeführt, damit ich bloß andauernd Druck verspüre, CoD zu starten.

Mit der aktuellen Season 6 von Modern Warfare 2 wird es noch aggressiver. Derzeit läuft ein Halloween-Event, während dem ich in jeder Runde Seelen von toten Gegner sammeln kann, um mir damit in einem Event-Shop Krams zu kaufen. Skins, Embleme und so. Das geht recht langsam, außer ich kaufe mir jetzt schon mal die teure Vault Edition von Modern Warfare 3. Nicht das reguläre MW3, nein, die kostspieligere Premium-Variante. Dann bekomme ich eine Waffenblaupause, die dafür sorgt, dass Gegner mehr Seelen fallen lassen.

Wie viel diese Vault Edition kostet?

100 Euro.

Die Mogelpackung Modern Warfare 3

Dabei ist Modern Warfare ist ein ziemlich aggressives Produkt - und eine kleine Mogelpackung. Diverse Hinweise deuten darauf hin, dass das Spiel ursprünglich als DLC geplant war. Der Multiplayer recycelt fast ausschließlich alte Maps und den Großteil der Waffen aus Modern Warfare 2, aber statt das Ding wie Ubisoft mit Assassin's Creed Mirage für kleineres Geld anzubieten, zahle ich selbst als Besitzer des Vorgängers im Minimum 70 Euro.

Und natürlich ködert mich Activision wieder mit Vorabzugang zum Vorbestellen - eine Taktik, die mein Kollege Peter erst vor ein paar Tagen kritisch auseinandernahm.

Activision kommuniziert dieses Recycling natürlich nicht als das, was es ist. Aus simpler Wiederverwertung wird eine groß angepriesene Rückkehr zu den Wurzeln. Es läuft sogar die passende Eminem-Mucke, wie damals im Trailer zum alten Modern Warfare 2, um die Nostalgie-Knöpfchen zu massieren:

CoD Modern Warfare 3: Erster Blick in den Multiplayer zeigt die Rückkehr von Legenden Video starten 2:13 CoD Modern Warfare 3: Erster Blick in den Multiplayer zeigt die Rückkehr von Legenden

Und jetzt kommt das Dilemma an der Sache: Mogelpackung hin oder her, Modern Warfare 3 ist auch verdammt gut - zumindest in der Beta. Die recycelten Maps sind zwar alt, aber natürlich nicht ohne Grund zeitlose Klassiker. Die über 50 Waffen aus Modern Warfare 2 zusätzlich zu den wenigen neuen Schießprügeln im Nachfolger ergeben ein sensationelles Ensemble an Knarren.

Mein Kollege Phil hat an einem Tag acht Stunden am Stück in der Beta verbracht, ich ebenso mehrere Abende und nach Ablauf der Frist musste ich meine Finger quasi mit Heißluftföhn von der Tastatur lösen. Bei aller Manipulation, bei aller Trickserei ist Modern Warfare 3 eine Sache nicht: eine Luftnummer.

Sämtliche Änderungen an der Time to Kill, dem Movement und Co. hätten auch per Patch erfolgen können - MW3 ist technisch schließlich identisch mit seinem Vorgänger. Aber das ändert nichts daran, dass diese Änderungen das Spiel dramatisch verbessern.

Was also tun?

Wie sollen wir als Zielgruppe also handeln? Call of Duty boykottieren, um manipulative Mikrotransaktionspraktiken nicht weiter zu unterstützen? Dann entgeht mir als Shooter-Fan ein potenziell fantastisches Spiel; schon in MW2 hatte ich trotz aller Kritik weit über 200 Stunden Spielspaß. Und letztlich geht es ja nicht um Nuklearwaffen oder die Rettung der Welt, sondern um Videospiele.

Auf der anderen Seite mache ich mir keine Illusion: Activisions Profitstreben kennt wie bei den meisten Unternehmen keinen Deckel. Solange sich Blackcell-Pässe verkaufen, solange zig Leute 25 Euro für Lara Croft auf den Tisch legen, rechne ich mit immer neuen Tricks, um in mir die Angst zu schüren, irgendwas zu verpassen, wenn ich nicht dauernd Geld ausgebe, dauernd Call of Duty spiele.

Was also tun? Kann ich ein Spiel gleichzeitig lieben und für sein Drumherum verteufeln? Und falls ja: Was mache ich mit diesem Doppeldenk? Können wir vorab verhindern, dass Activision irgendwann den Bogen wieder überspannt - oder müssen wir letztlich akzeptieren, dass wir manchmal einfach simple Kreaturen sind, die sich austricksen lassen? Was denkt ihr?

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