Literarisches Kopfkino
Dear Esther ähnelt in vielerlei Hinsicht einem Gedicht. Man kann ihm formal und objektiv begegnen, das Versmaß oder die Struktur analysieren, aber letztlich bleibt es ein zutiefst subjektives, ja sinnliches Vergnügen.
Natürlich könnte ich dem »Spiel« seine kurze Spieldauer ankreiden (obwohl sich die Erzählung bei jedem Neustart in teils feinen Nuancen ändert und sich so erst nach mehrmaligem Spielen zu einem vielschichtigen Puzzle zusammenfügt); oder seine starre Linearität, bei der ich allenthalben an unsichtbare Grenzen in der Spielwelt stoße; oder das gletscherartige Tempo meiner »Figur«, das zwar wunderbar zur Atmosphäre passt, mir aber mitunter trotzdem fürchterlich auf den Geist geht.
Bloß ändert das rein gar nichts daran, dass Dear Esther bei mir ein Kopfkino abbrannte, dass ich so in diesem Medium noch nie erlebt habe. Ich will nicht behaupten, dass meine Erfahrung repräsentativ sei, im Gegenteil, ich würde vermuten, dass manche von Ihnen mit diesem Storytelling-Experiment nicht das Geringste anfangen können, und das ist auch völlig okay.
Dear Esther will nicht Mainstream sein oder jedem gefallen. Es fühlt sich sichtlich wohl in seiner Nische.
Mein Lieblingsmoment übrigens (und der einzige, bei dem ich nicht Gefahr laufe, mit Spoilern nur so um mich zu werfen) ereignet sich ganz zum Schluss. Das Bild wird schwarz, Wellen plätschern leise an die Küste, es ist jener kurze Augenblick, den man aus dem Kino kennt, diese eine Sekunde, bevor das Licht angeht und der Abspann läuft und man endlich das Gesicht der blöden Schnepfe sieht, die während des Films die ganze Zeit mit der Freundin getuschelt hat, weil sie nicht kapiert, dass es nichts Ohrenbetäubenderes gibt als im Kino zu flüstern.
Aber das Licht geht nicht an. Es gibt keinen Abspann. Der Bildschirm bleibt schwarz und ich zurück im Wellenrauschen, alleine mit den Eindrücken des gerade Erlebten, und es kostet mich unglaublich viel Überwindung, nach drei oder vier Minuten auf die ESC-Taste zu drücken, um Dear Esther zu beenden.
Ein Arthouse-Spiel?
Wäre Dear Esther ein Film, würde man ihn »Arthouse« nennen und in Feuilletons besprechen (bezeichnenderweise wurde Dear Esther in der Wochzeitung »Die Zeit« tatsächlich besprochen -- aber im Games- und nicht im Kulturteil). Dabei kann der Indie-Titel visuell und akustisch erstaunlich gut mit der Vollpreis-Konkurrenz mithalten.
Zwar merkt man der Source-Engine inzwischen an, dass sie nicht mehr taufrisch auf den Beinen ist, aber was Leveldesigner Robert Briscoe (Mirror’s Edge) aus den betagten technischen Möglichkeiten herausholt, muss sich in Sachen Einfallsreichtum, Originalität und Atmosphäre vor keinem Skyrimverstecken. Die Höhle im dritten von insgesamt vier Abschnitten beispielweise ist atemberaubend gut in Szene gesetzt.
Letztlich allerdings bleibt Dear Esther ein Experiment, das sich gängigen Standards entzieht und Vergleiche quasi von Vorneherein zum Scheitern verurteilt. Es sieht aus wie ein Spiel und es steuert sich wie ein Spiel, aber es funktioniert nicht wie ein Spiel, und es fühlt sich auch nicht so an.
Dear Esther bedient sich des Mediums, um etwas völlig anderes zu schaffen. Das Ergebnis muss man nicht mögen. Man kann es auch als spielerisch anspruchsloses und sturzlangweiliges Abklappern von Hotspots begreifen. Mich allerdings hat es bezaubert.
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