Dear Esther im Test - Poetisches Storytelling-Experiment

Spiel, Un-Spiel oder etwas völlig anderes? Dear Esther entzieht sich allen Konventionen. Auch denen eines Tests, sagt Jochen Gebauer.

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Dear Esther - Die raue Schönheit der namenlosen Insel ist trotz der betagten Engine beinahe greifbar. Dear Esther - Die raue Schönheit der namenlosen Insel ist trotz der betagten Engine beinahe greifbar.

Wo ist die Wertung?

Da Dear Esther quasi keinerlei Gameplay-Elemente besitzt und sich durch seinen experimentellen Ansatz auch keinem Genre zuordnen lässt, haben wir bewusst auf eine Wertung verzichtet.

Dear Estherist kein Spiel. Wenn ich ehrlich bin, dann habe ich keine Ahnung, was Dear Esther eigentlich ist. Der Autor nennt es eine Geistergeschichte, aber ich bin mir nicht sicher, ob es überhaupt einen Geist gibt.

Ich weiß lediglich, dass Dear Esther kein Spiel ist, jedenfalls nicht so, wie ich das Medium bislang verstanden habe, und dass ich es unmöglich als Spiel beurteilen und einen klassischen Test verfassen kann, weil das dem Versuch gleichkäme, in einem dunklen Raum und mit verbundenen Augen eine schwarze Katze zu fangen, die gar nicht drin ist.

Wenn Sie mir eine Pistole an den Kopf halten und mich dazu zwingen würden, es in eine Schublade zu stecken, dann würde ich sagen, dass Dear Esther interaktive Poesie ist, aber das wäre bestenfalls eine grobe Annäherung, weil Dear Esther gar nicht interaktiv ist.

Das Original Dear Esther war ursprünglich eine experimentelle Modifikation für Half Life 2, entwickelt vom britischen Medienforscher Dan Pinchbeck an der Universität von Portsmouth. Die Mod ist übrigens immer noch frei erhältlich.

Das Remake Für das Remake wurde nicht nur die Story erweitert, sondern auch die Grafik kräftig aufgemöbelt. Verantwortlich dafür ist Leveldesigner Robert Briscoe (Mirror’s Edge).

Der Radiomast Schon in der Original-Mod war der ominöse Radiomast ein zentrales Element und thronte symbolisch über der Insel.

Ziel der Reise Auch im Remake stellt der Mast das Ziel der Reise dar - - jetzt allerdings optisch eindrucksvoller in Szene gesetzt.

Die Sache ist nämlich die: Ich interagiere nicht; ich lausche, ich beobachte, ich staune, aber eine echte Interaktion, ein Spiel, findet nicht statt. Es gibt nur mich, die Erzählung und jene namenlose schottische Insel, auf der mich Dear Esther absetzt und von der ich den Eindruck habe, sie sei lediglich das Symbol für etwas viel Wichtigeres.

Wellen peitschen an die Küste, dezente, aber wundervolle Musik setzt ein, und ein ebenso namenloser Erzähler beginnt seine Geschichte mit den folgenden Worten: »Liebe Esther. Die Möwen landen hier nicht mehr.«

Steam-Pflicht

Dear Esther ist momentan ausschließlich über Valves Online-Plattform Steam erhältlich -- zum Preis von 7,99 Euro.

Ich tue buchstäblich: nichts

In den nächsten 90 Minuten wandere ich über diese Insel, mein Ziel ein Mast in der Ferne, den ich beinahe instinktiv als Endpunkt der Reise begreife, unterbrochen lediglich von Monologen des Erzählers, mal als Brief an die rätselhafte Esther, mal in Form eines Tagebucheintrages.

An festgelegten Punkten spinnt der Erzähler die fragmentartige Handlung weiter. An festgelegten Punkten spinnt der Erzähler die fragmentartige Handlung weiter.

Ansonsten tue ich buchstäblich nichts, ich kann nicht rennen, nicht springen, ich kann nichts aufheben oder anfassen oder öffnen, es gibt keine Rätsel, keine Dialoge, keine Figuren; ich weiß nicht mal, ob es mich selbst überhaupt gibt, wer auch immer ich eigentlich bin.

Ich folge einem linearen Pfad und nehme in mich auf, die raue Schönheit der Insel, seltsame Symbole auf Kalkstein gekritzelt, kleine Details in verlassenen Hütten, die viel oder gar nichts besagen können, Ultraschall-Bilder eines Babys, chemische Formeln. Und natürlich die Erzählung.

Es ist eine melancholische, mitunter verzweifelte und doch seltsam tröstliche Geschichte, die ich nicht erklären kann, ohne sie beinahe zwangsläufig zu entzaubern -- und von der ich mir weder sicher bin, ob ich sie verstanden habe, noch ob sie überhaupt verstanden werden soll.

Das klingt schrecklich verklausuliert, aber es ist quasi die Natur des Erlebnisses: Wer im Deutschunterricht vernehmlich stöhnte, als er den Faust oder den Steppenwolf interpretieren sollte, der wird an Dear Esther keinen Spaß haben.

Mysteriöse, an Wände gekritzelte Symbole sind ein ständiger Begleiter. Mysteriöse, an Wände gekritzelte Symbole sind ein ständiger Begleiter.

Das meine ich gar nicht abwertend, denn man kann dem Erzählten durchaus einen gewissen Hang zur Schwülstigkeit und eine zumindest latente Neigung zum Elitismus vorwerfen -- wenn Sie nicht wissen, was ein Damaskuserlebnis ist oder welche Rolle der biblische Lot genau spielte, dann werden Sie bestimmte Handlungsstränge nur schwer verstehen.

Ähnliches gilt auch in sprachlicher Hinsicht, denn Dear Esther schlägt bisweilen einen archaischen Ton an, der ohne ausgezeichnete Englisch-Kenntnisse (oder ein griffbereites Wörterbuch) schlicht unverständlich bleibt, zumal momentan noch keine deutschen Untertitel existieren. Oder wussten Sie, dass »bothy« ein alter schottischer Ausdruck für eine Hütte ist? Ich auch nicht (und ich habe Anglistik studiert, aber erzählen Sie das bitte nicht meinem Professor).

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