Es klingt nach einem gewöhnlichen Auftrag für einen Hexer: Den kleinen Alvin vor Banditen retten, bitte gerne, 200 Oren Standardgebühr. Aber so einfach ist es nicht. Alvin hat magische Kräfte und muss nach der Rettungsaktion behütet werden - von der bezaubernden Ärztin Shani oder der tatsächlich zaubernden Triss. Ein Problem, denn mit beiden Frauen hat der Hexer eine Affäre.
Schnell wird klar: Hier geht's gar nicht um den Buben, sondern um Geralts mittelalterliches Junggesellentum. Ich bringe Alvin schweren Herzens zu Triss, und es kommt noch härter: »Geralt, ich wollte über die Zukunft reden - über uns …« Alarm! Triss will, dass sich der Hexer festlegt. Hochzeit? Kinder? Shani? Geralt stürmt in die nächste Absteige, betrinkt sich und versackt in der Gosse von Vizima.
Und ich, ich schalte das Spiel aus. Ich will nicht über die Zukunft nachdenken. Ich will nicht »über uns« reden. Ich will Ghoule jagen. Den Orden die Flammenrose vernichten. Die schwierigste Entscheidung, die The Witchervon mir verlangt, hat nichts mit Monstern zu tun, mit Elfen, mit Intrigen und Königen, sondern mit menschlichen Beziehungen.
Die Moral kommt ins Spiel
Genau genommen besteht jedes Spiel aus einem Gerüst von Regeln, innerhalb dem ich Entscheidungen treffe. Meist unterbewusst und kurzfristig wähle ich, wohin mein Schachspiel-Bauer vorrückt, oder in welche Richtung sich der Pac-Man mampft. Das ist simpel, das kann jeder. Doch 1985 hebt Richard Garriots Rollenspielklassiker Ultima 4 die Entscheidungen in Computerspielen auf eine neue Stufe. Auf der Suche nach der ultimativen Weisheit muss ich darin keinen Bösewicht vernichten, sondern in gewöhnlichen Taten acht Tugenden beweisen, um zum gottgleichen Avatar aufzusteigen. Die Moral hält Einzug ins Computerspiel.
Ob Bioshock, The Witcher, Falloutoder Baldur’s Gate: Seit Ultima 4 ist es populär geworden, nicht nur über das schärfere Schwert und die bessere Deckung, sondern auch über die Moral nachzudenken. In vielen Spielen stehe ich zwischen Gut und Böse, in unzähligen Momenten fälle ich salomonische Urteile über alles, was am Wegesrand geschieht. Kaputte Alien-Ehen? Atombomben?
Immer her damit, der Held macht das schon. Ich bin Profi geworden in der Wahl zwischen Gut und Böse. Nur die Herausforderung dabei, die ist weg. Wie können Entscheidungen wieder zu Herausforderungen werden - so wie bei der Damenwahl in The Witcher?
Was wäre, wenn ...
Für Sebastian Stepien, den Story- und Dialog-Designer der Witcher-Serie, sind Entscheidungen die dramaturgischen Höhepunkte eines Spiels: »Es geht darum, den Spielern zu ermöglichen, die Geschichte zu beeinflussen. Entscheidungen hauchen Helden und Nicht-Spieler-Charakteren Leben ein. Sie sind der Kern des Rollenspiels.«
Jede Entscheidung soll so stimulierend, so wichtig und so kompliziert sein wie ein Bosskampf. Nur dass ich in diesem Fall eben mit meinem Gewissen kämpfe.
»Wenn Entscheidungen und ihre Konsequenzen stimmig präsentiert sind«, erläutert Stepien weiter, »dann regen sie die Vorstellungskraft an und lassen uns über das Was-wäre-wenn nachdenken.« Der Weg des Avatars in Ultima 4 ist lang und beschwerlich. Nicht wenige Spieler scheitern an der Aufgabe, ein tugendhafter Held zu sein, der die Kommode der blinden Wahrsagerin eben NICHT nach Gold durchsucht. Umso wichtiger ist es deshalb, die ultimative Weisheit zu finden: Ich muss kein Monster besiegen, keine Prinzessin retten. Ich muss meine eigenen Taten hinterfragen.
Casey Hudson, der Executive Producer von Mass Effect 3, bringt es auf den Punkt: »In einem interaktiven Medium wie dem Videospiel haben nicht-interaktive Elemente keinen Platz. Die Geschichte muss auf den Spieler reagieren.« Das aber führt zum zentralen Problem: Viele Spiele behandeln moralische Entscheidungen inzwischen ähnlich wie einen Mehrspieler-Modus. Wie etwas, das auf einer Checkliste steht. Etwas, das man eben haben muss. Irgendwie.
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