Meinung: Google verspricht mit Stadia zu viel

Die Reaktionen auf Googles Stadia-Release sind oft kritisch. Kein Wunder, findet Hardware-Redakteur Nils Raettig, weil Google den Mund oft zu voll nimmt. Großes Erfolgspotenzial ist aber vorhanden.

Google hat bei der Kommunikation rund um Stadia einige Fehler gemacht, Erfolg könnte die Streaming-Plattform aber dennoch haben, glaubt Nils. Google hat bei der Kommunikation rund um Stadia einige Fehler gemacht, Erfolg könnte die Streaming-Plattform aber dennoch haben, glaubt Nils.

Als der werte Kollege Heiko Klinge im Gespräch mit Jack Buser danach fragt, welche Spiele er sich persönlich für Stadia wünschen würde, zeichnet Googles Director of Games und Head of Business Development eine fast schon utopisch anmutende Vision für die Zukunft von Stadia.

Er beginnt seine Zeichnung mit dem nicht unbedingt selbstverständlichen Hinweis, dass der Streaming-Aspekt von Stadia für ihn gar nicht das Spannendste sei.

Google Stadia im GameStar-Test: Cloud-Gaming vs. PC

Es sei die geballte Hardware-Power der Stadia-Rechenzentren - und die extrem schnelle Verbindung dieser Rechenzentren untereinander, die sie in Zukunft praktisch zur »größten LAN-Party der Welt« machen könne.

"Stell dir ein Spiel vor, das eine riesige globale Simulation ist. […] Stell dir hunderttausende Spieler vor, die alle gleichzeitig online sind, in einer lebenden, atmenden Welt, die niemals stoppt, über einen Zeitraum von Jahrzehnten hinweg. […] Das ist die Technologie, die wir geschaffen haben."

Buser räumt zwar ein, dass ein solches Spielkonzept nicht leicht umsetzbar sei, direkt danach betont er aber wieder, dass es mit Stadia für Entwickler keine Grenzen mehr gebe.

Der Autor:
Nils Raettig ist seit sechs Jahren Hardware-Redakteur bei der GameStar. In dieser Zeit hat er bereits mit Tests der Streaming-Lösungen Geforce Now und Shadow PC Erfahrungen in Sachen Cloud-Gaming gesammelt. Als Freund von flotten Selbstbau-PCs, Monitoren mit hoher Bildwiederholrate und dem (kompetitiven) Spielen per Maus und Tastatur dürfte er zwar nicht zu der Zielgruppe von Stadia gehören, Potenzial sieht er im Cloud Gaming aber dennoch.

Wunschtraum Grenzenlosigkeit

Natürlich gibt es für Stadia Grenzen, jede Menge sogar. Das dürfte auch Buser durchaus bewusst sein, Google kommuniziert diese Grenzen für meinen Geschmack aber nicht offen genug - und schneidet sich damit ins eigene Fleisch.

Hätte man den Start von Stadia als das bezeichnet, was er ist - nämlich ein öffentlich zugänglicher (wenn auch teurer) Beta-Test und kein fertiges Produkt für die Allgemeinheit - dann würde sich niemand über noch fehlende Features, Kinderkrankheiten oder eine geringe Spieleauswahl wundern.

Stattdessen wurde das Fehlen ursprünglich angekündigter Funktionen erst kurz vor Release kommuniziert und das versprochene Spielen in 4K ist mit einigen großen »Aber« wie der Beschränkung auf den Chromecast Ultra oder dem (zumindest teilweisen) Hochskalieren von niedrigeren Auflösungen auf 4K versehen.

Die heile »Spiele sofort ohne Konsole in 4K los«-Welt von Stadia sieht sich außerdem mit den üblichen Herausforderungen konfrontiert, die bei Streaming-Lösungen nun mal gegeben sind, allen voran die Abhängigkeit von einer schnellen Internetleitung und von guten Netzwerkbedingungen.

Stadia kann PC und Konsole nicht ersetzen - soll es auch gar nicht

Cloud-Gaming wird immer gewisse Nachteile gegenüber dem lokalen Spielen auf dem PC oder der Konsole haben, Spaß kann man damit aber trotzdem haben. Cloud-Gaming wird immer gewisse Nachteile gegenüber dem lokalen Spielen auf dem PC oder der Konsole haben, Spaß kann man damit aber trotzdem haben.

Manche Aussagen von Entwicklern und von Google klingen so, als seien das Hindernisse, die irgendwann komplett überwunden werden könnten. Ich bin da skeptischer und glaube nicht daran, dass Stadia mit Blick auf die Bildqualität und die Latenz je mit lokaler Rechenpower wie einem PC oder auch einer Konsole mithalten kann - zu allermindest dann nicht, wenn Mal wieder das Internet spinnt.

Deshalb könnte Stadia für mich wohl höchstens eine Ergänzung und nie ein Ersatz sein. Das sage ich aber aus Sicht eines technik-affinen PC-Spielers (und Hardware-Redakteurs), der für Unterschiede in solchen Bereichen sensibilisiert ist - und damit dürfte ich nicht allein dastehen, schließlich spielen viele von uns schon lange genug am PC oder der Konsolen oder oft auch beidem.

Aber nicht jeder nimmt ein etwas unscharfes Bild oder eine gewisse Eingabeverzögerung gleichermaßen stark wahr, und Spaß mit Spielen kann man trotz solcher Faktoren haben. Andernfalls dürfte es Google auch schwer haben, die laut unserem Interview mit Buser anvisierten »Milliarden von Spielern« zu erreichen.

Technik ist nicht alles

Viele für Stadia angekündigte Funktionen haben es zum Release am 19. November nicht in die Live-Version geschafft. Das hätte Google besser (und vor allem früher) kommunizieren können. Viele für Stadia angekündigte Funktionen haben es zum Release am 19. November nicht in die Live-Version geschafft. Das hätte Google besser (und vor allem früher) kommunizieren können.

Grundsätzlich bin ich zwar skeptisch, was Googles Ziel Milliarden von Spieler zu erreichen anbelangt. Ein Erfolg könnte Stadia aber auf längere Sicht durchaus werden - trotz der (noch) uneingelösten Versprechungen und teils etwas utopischen Vorstellungen für die Zukunft.

Das größte Potenzial von Stadia liegt nämlich meiner Meinung nach nicht in irgendwelchen noch nie dagewesenen Spielmechaniken, die erst mit Stadia-Hardware möglich sein werden oder in Schlagwörtern wie 4K oder gar 8K. Es ist stattdessen die Einfachheit, mit der das Cloud-Gaming im besten Fall funktioniert.

Mit wenigen Klicks und in kürzester Zeit auf verschiedenen Geräten ohne große Investitionen in Hardware mit dem Zocken loslegen zu können, hat einfach eine gewisse Faszination. Das wird auch in den Berichten zu Stadia von eigentlich Gaming-fremden Seiten wie etwa der Zeit deutlich.

Dieses Erlebnis können grundsätzlich auch andere Anbieter von Cloud-Gaming bieten und zum Release lässt Stadia mit Blick auf das Spieleangebot (und teils auch auf die Preise) aus meiner Sicht stark zu wünschen übrig.

Dabei darf man aber nicht vergessen, dass Stadia nicht für das hier und jetzt, sondern für das nächste Jahrzehnt (und die Zeit danach) gemacht ist. Oder besser gesagt »gemacht wird«.

Und auch wenn Google schon öfter ambitionierte Projekte wie Google+ gestartet und sie dann wieder fallen gelassen hat, ist eine gewisse Strahlkraft von Googles Engagement im (Cloud-)Gaming-Bereich nicht zu leugnen.

Neue Zielgruppen erschließen statt alte übernehmen

Der größte Erfolg von Stadia wäre es wohl nicht, PC- oder Konsolen-Spieler zum Wechsel zu bewegen, sondern Menschen für Spiele zu begeistern, die bislang wenig bis nichts damit zu tun haben. Der größte Erfolg von Stadia wäre es wohl nicht, PC- oder Konsolen-Spieler zum Wechsel zu bewegen, sondern Menschen für Spiele zu begeistern, die bislang wenig bis nichts damit zu tun haben.

Laut Jack Buser hat er vor vier Jahren mit den Arbeiten an Stadia begonnen, das bei der Planung avisierte Zeitfenster für die Zukunft benennt er mit sechs bis zehn Jahren. So lange dürfte es meiner Einschätzung nach auch allermindestens noch dauern, bis Cloud-Gaming sich auf breiterer Front durchsetzen kann.

Ob unsere Internet- und Netzwerkleitungen bis dahin wirklich in der Lage dazu sein werden, Milliarden von Spielern reibungsloses und gleichzeitiges Spielen über die Cloud zu ermöglichen, darf bezweifelt werden, besser wird es künftig aber bestimmt.

Stadia kann gleichzeitig auch mit geringeren Spielerzahlen ein Erfolg sein, wenn dadurch bei Menschen Interesse am Spielen geweckt wird, für die die Anschaffung eines passenden PCs oder einer Konsole momentan noch ein zu großes Hindernis darstellt.

Die von Buser skizzierte Vision eines Spiels, das die Welt simuliert, wirkt auf mich zwar eher etwas gruselig als wirklich reizvoll. Aber wenn sich mehr Menschen für das Hobby Videospiele begeistern, ohne die wirkliche Welt da draußen zu vergessen, dann finde ich das zunächst einmal begrüßenswert - ganz egal, ob sie das an einem PC, an einer Konsole oder über die Cloud tun.

Es darf dabei aber gerne starke Konkurrenz für Stadia geben. Ein einzelner dominierender Anbieter auf dem Markt bedeutet für die Kunden schließlich selten etwas Gutes.

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