Story, Witz und Ton an der Genre-Spitze
Was nicht bedeutet, dass Harveys Neue Augen schwere Kost wäre. Im Gegenteil: Gerade der erste Akt gehört spielerisch und erzählerisch zum Besten und Komischsten, was das Genre momentan zu bieten hat.
Toll geschriebene Dialoge (oder in diesem Fall eher Monologe, denn Lilli kommt ja einfach nicht zu Wort), ein von Ex-Bond-Bösewicht Götz Otto brillant vertonter Erzähler, intelligenter, teils schreiend komischer Humor und nachvollziehbar-logische Rätsel, die so geschickt ineinander übergreifen, dass sich das Ganze wie aus einem organischen Guss spielt. Leider scheitert der vergleichsweise kurz und einfach geratene Mittelteil an der vorher selbst gelegten Messlatte. Im zweiten Akt spielt zwar endlich der namensgebende Hase Harvey mit seinen neuen Augen eine tragende Rolle, allerdings liegen Witz und Räselqualität teils so spürbar unter dem Niveau des großartigen (zum Glück recht langen) ersten Kapitels, dass Harveys Neue Augen hier nicht nur potenzielle Spielzeit verschenkt, sondern auch eine noch höhere Wertung.
Ja, das ist Kritteln auf einem trotzdem hohen Niveau und der dritte Akt entschädigt mit einem ebenso passenden wie überraschenden Ende, aber viel mehr gibt’s an Harveys Neue Augen einfach nicht auszusetzen. Die Laufwege sind angenehm kurz, die Bedienung tadellos und im Gegensatz zu manch anderen Adventures werden wir nicht von unzähligen Hotspots überfallen, die wir anschließend alle mühsam abklappern müssen, wenn wir mal nicht weiterwissen. Stattdessen hält sich deren Zahl in sehr engen Grenzen. Dafür sind nahezu alle spielerisch tatsächlich relevant und dazu geeignet, dem Erzähler teils atemberaubend gute Kommentare zu entlocken. Lediglich die optionale Hotspot-Anzeige per Leertaste ist unglücklich gelöst: Dort werden interaktive Punkte durch zwei rote Harvey-Augen markiert, was zwar zum Titel und zur Geschichte passt, unglücklicherweise aber auch ganz prima zu vielen Hintergründen, so dass die Markierung untergeht.
Minimalistische Gestaltung, maximale Wirkung
War das eigentliche Manko bei Edna bricht aus noch die Grafik in effektlosen 800 mal 600 Pixeln, strahlen Harveys Neue Augen in HD-Auflösungen. Am minimalistisch-surrealen Stil, bei dem Figuren nur dann einen Mund haben, wenn sie gerade einen brauchen, hat sich indes wenig geändert, und ein Effekte-Feuerwerk sollte niemand erwarten. »Und wieso steht dann eine »7« bei Grafik?«, mag an dieser Stelle jener Leser fragen, der die Wertung vor dem Fließtext liest. Weil der gezeichnete Look in sich absolut stimmig ist und mitunter so raffiniert und überzeugend als erzählerisches Stilmittel eingesetzt wird, dass sich andere Spiel- und Grafik-Designer eine Scheibe abschneiden könnten. Ebenfalls vorbildlich: Die konsequent starke Vertonung, bei der Götz Otto tatsächlich das Kunststück vollbringt, regelmäßig das Niveau von Portal zu erreichen.
Edna-Fans seien allerdings gewarnt: Die Text- und Dialogmenge wurde ordentlich zurückgefahren -- auch das ein Faktor für die geringere Spielzeit. Und wer auf viele amüsante Szenen mit Edna, Harvey und Doktor Marcel gehofft hat, der könnte durchaus enttäuscht werden. Harveys Neue Augen ist eben nicht Edna 2, sondern ganz allein Lillis Geschichte. Die liebgewonnen Vorgänger-Figuren spielen mehr (Doktor Marcel, Edna) oder minder (Original-Harvey) große Nebenrollen. Und wer sich fragt, ob’s wenigstens ein Wiedersehen mit den durchgeknallten Anstalts-Gestalten gibt, dem sei ohne Umschweife und in aller Direktheit, klar, deutlich und auf den Punkt gebracht gesagt: Droggelbecher.
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