Herr der Ringe: Videospiele brauchen, was selbst Filme nicht haben dürfen

Meinung: Mittelerde ist viel größer als Der Herr der Ringe. Die ganze Schöpfungsgeschichte bietet noch so viel Platz für Abenteuer, den vor allem Videospiele hervorragend nutzen könnten.

Wenn ich mich auf dem Sterbebett ein letztes Mal für eine Filmreihe entscheiden dürfte, dann wäre das die Herr-der-Ringe-Trilogie von Peter Jackson. Natürlich als Extended Edition, so habe ich immerhin noch ein paar Stunden mehr, bevor ich abtreten muss.

Aber so geht es nicht jedem. Und so geht es vor allem nicht den Leuten, die ein viel größeres Anrecht auf Mittelerde haben als ich. Tolkien konnte sich damals nicht mehr zu den Filmen äußern. Sein Sohn allerdings schon. Und Christopher Tolkien fand keine allzu guten Worte für Jacksons Filmtrilogie. Zu sehr Hollywood. Zu viel Action für 15- bis 25-jährige.

Warum erzähle ich euch das? Mit Christophers offener Kritik an den Jackson-Filmen war endgültig klar: Niemals würden Tolkiens Erben unbedacht weitere Teile seines Werkes aus der Hand geben. Dabei ist Mittelerde sehr viel umfangreicher und Der Herr der Ringe nur ein »Bruchtal« einer deutlich größeren Mythologie.

Der Herr der Ringe - Alle Mittelerde-Spiele im Überblick ansehen

Diese Mythologie setzt sich aus Texten zusammen, die erst nach Tolkiens Tod von besagtem Christopher editiert und veröffentlicht wurden. Daraus ging etwa Das Silmarillion hervor, in dem Tolkien die komplette Vorgeschichte seiner Welt aufdröselt. Deshalb strotzt strotzt diese Welt nur so vor fantastischen Geschichten und Orten, die wir noch nie auf einer Leinwand zu Gesicht bekamen. Und die wir aus dem selben Grund auch noch nie in einem Videospiel bereisen durften.

Bei Filmen oder Serien kann ich damit noch sehr gut leben. Spätestens seit ich weiß, wie man sogar den Hobbit auf der Leinwand ruinieren kann. Bei Spielen sieht die Lage etwas anders aus - auch wenn es hier ebenfalls ein paar äußerst fragwürdige Vertreter gibt. Meiner Meinung nach brauchen Herr-der-Ringe-Spiele aber Tolkiens erweiterte Werke. Denn hier liegt mehr Potenzial begraben als Münzen in Smaugs sagenhaftem Goldhort.

Der Autor

Fabiano Uslenghi arbeitet seit 2019 als Redakteur bei GameStar und kennt sich besonders gut mit Rollen- und Strategiespielen aus. Und warum? Weil diese Genres stark mit Fantasy in Verbindung stehen. Deren Wurzel liegt wiederum in J.R.R. Tolkiens Herr der Ringe. Keine andere Buch und Film-Reihe hat Fabiano so nachhaltig geprägt. Hier wagte er sich im jungen Alter erstmals an eine recht anspruchsvolle Romantrilogie. Das Silmarillion kam erst viele Jahre später hinzu. Einerseits sehnt sich Fabiano seither nach mehr Film- oder Spieleumsetzungen zu Tolkiens Welt. Andererseits erleichtert es ihn, dass Tolkiens Nachfahren ganz genau darauf achten, was mit dem Werk ihres Vaters getrieben wird.

Wie Das Silmarillion Videospiele beflügelt

Wer Der Herr der Ringe nur im Kino gesehen hat, der kann sicherlich über jedes You-don't-simply-Meme kichern, hat aber vielleicht noch nie etwas vom Silmarillion gehört. Und das ist ihm auch nicht zu verdenken. Das Silmarillion liest sich nämlich in etwa so fluffig wie die Bibel. Den größten Teil macht davon die Jahrtausende umfassende Schöpfungsgeschichte von Mittelerde und seiner Völker aus, sowie die genauen Eckdaten der drei großen Zeitalter.

Wenn ein Herr-der-Ringe-Spiel die Ereignisse der Filme und Bücher umschiffe will, geht es manchmal auch um den Krieg im Norden. Wenn ein Herr-der-Ringe-Spiel die Ereignisse der Filme und Bücher umschiffe will, geht es manchmal auch um den Krieg im Norden.

Dazwischen findet sich aber immer wieder Platz für detaillierte Heldengeschichten. Die drei bekanntesten sind zweifellos die Geschichten vom Fall von Gondolin, Beren und Lúthien sowie Die Kinder Húrins. Gerade diese Zwischengeschichten eignen sich sicherlich als Filmvorlage. Doch um den Inhalt des Silmarillions vollständig auszuschöpfen, sind PC-Spiele meiner Meinung nach besser geeignet. Dafür gibt es zwei Gründe.

1. Die Power-Fantasie

Videospiele geben uns das Gefühl, deutlich kompetenter zu sein als in der Realität. Deutlich mächtiger. Auch Herr-der-Ringe-Spiele leben oft von dieser Power-Fantasie. In Die Rückkehr des Königs stürze ich mich als Aragorn, Gandalf oder Legolas in die Schlacht und bringe Hunderte Orks zu Fall. Mordors Schatten treibt es noch weiter. Hier spiel ich einen von einem alten Elbengeist besessenen Waldläufer. Ruckzuck teleportiere ich mich von Gegner zu Gegner, schieße explosive Pfeile und reite im Nachfolger sogar auf Drachen. Hier mehr zu diesem Größenwahn:

Mordors Schatten tischt schon viel von dem auf, was uns vielleicht in der epischen Sagenwelt des Silmarillion erwarten könnte. Gleichzeitig versucht das Spiel dieses Gefühl von Macht in die Rahmenhandlung von Der-Herr-der-Ringe zu zwängen. Eben weil auf das Silmarillion nicht zurückgegriffen werden darf. Das Ergebnis ist ein etwas unstimmiger Gesamteindruck, der sich nach purer Fanfiction anfühlt. Für ein Spiel im Ersten Zeitalter gäbe es quasi keine Grenzen mehr.

Hier treffen Elben von halbgöttlicher Macht auf einen satansgleichen Feind, der Sauron wie ein wütendes Kind mit ein paar Billigringen wirken lässt. Ihr fandet Kankra schon erschreckend? Dann trefft erst mal ihre Urgroßmutter Ungoliant, die reines Licht verschlingt. Das will ich mal in einem Spiel erleben! Besonders in einem Rollenspiel, in dem ich alle möglichen Spielarten von unbegrenzter Macht auslebe. Sorry für die Star-Wars-Referenz.

In Videospielen stehen imposante Schlachten und übermächtige Helden oft im Mittelpunkt, obwohl das nur eine Facette von Herr der Ringe ist und in dieser Form oft nicht zur Welt passt. In Videospielen stehen imposante Schlachten und übermächtige Helden oft im Mittelpunkt, obwohl das nur eine Facette von Herr der Ringe ist und in dieser Form oft nicht zur Welt passt.

2. Das Erkunden

Kritiker von Der Herr der Ringe machen sich oft darüber lustig, wie ausführlich das Reisen beschrieben wird. Wie penibel Tolkien darauf achtet, selbst Kleinigkeiten eine Hintergrundgeschichte zu geben. Selbst wenn das für den eigentlichen Plot keine Rolle spielt. Womöglich wirklich Geschmackssache. Mir gab es immer das Gefühl, keine ausgedachte Geschichte in einer fiktiven Welt zu erleben. Mittelerde fühlte sich für mich mehr wie ein unbekanntes Land an, das ich selbst bereisen könnte.

Dieses Gefühl kann kein Film jemals nacheifern. Ganz gleich, wie viele Panorama-Aufnahmen von Neuseeland gedreht werden. Spiele schon. Nichts anderes wollen Open-World-Spiele bei uns auslösen. Und auch Mittelerde durften wir schon frei bereisen (wenn auch viel zu selten). In Herr der Ringe Online etwa. Doch mit dem Silmarillion wächst die Welt. Mittelerde selbst war nämlich mal viel größer. Es gab eine komplette Landmasse in Nordwesten, die vollständig im Meer versank.

Spiele könnten Mittelerde sogar hinter sich lassen. Stattdessen bereisen wir die sternförmige Insel Numenor. Das Menschenreich, von dem das Königsgeschlecht Gondors abstammt. Oder noch weiter nach Westen. Dort könnten wir den segensreichen Kontinent Aman besuchen und seine Geheimnisse entdecken.

In fremde und gefährliche Länder reisen gehört zu Der Herr der Ringe dazu. In Spielen wird dieser Entdeckerdrang aber oft ausgelassen. Herr der Ringe Online bietet ihn zwar, sieht mittlerweile aber aus wie altes Lembasbrot. In fremde und gefährliche Länder reisen gehört zu Der Herr der Ringe dazu. In Spielen wird dieser Entdeckerdrang aber oft ausgelassen. Herr der Ringe Online bietet ihn zwar, sieht mittlerweile aber aus wie altes Lembasbrot.

Wo sollen PC-Spiele hin?

Ich glaube, PC-Spiele zu Herr der Ringe brauchen diesen erweiterten Kanon. Solang Spiele immer wieder nur den selben Konflikt rund um den Ringkrieg abgrasen, werden sie blockiert. Stehen im Schatten der Filmtrilogie. Entwickler haben fast keine andere Wahl, als uns entweder die mittlerweile sehr bekannten Ereignisse nacherleben zu lassen oder in obskure Fanfiction abzudriften, wie bei Schatten des Krieges geschehen.

Amazon wagt sich mit seiner Fernsehserie ans Zweite Zeitalter, kann dafür aber explizit nur auf diese Epoche zurückgreifen und nicht auf das komplette Silmarillion. Videospiele haben sich derweil darauf eingeschossen, andere Blickwinkel zu ermöglichen. Mordors Schatten zeigte uns ausführlich das Reich des Bösen und im bevorstehenden Gollum spielen wir - nun ja, Gollum eben! warum das ein Problem sein könnte und wie Schleich-Gameplay und Herr der Ringe zusammenpassen, lest ihr in der großen Preview:

Herr der Ringe: Gollum - Der erste Teaser zeigt natürlich tote Fische und feurige Berge Video starten 1:03 Herr der Ringe: Gollum - Der erste Teaser zeigt natürlich tote Fische und feurige Berge

Das ist alles ganz nett. Für eine neue Generation an außergewöhnlichen PC-Spielen in Tolkiens Universum wird das aber nicht reichen. Das Silmarillion wäre die perfekte Chance für das Medium, Filmen mal ein Schnippchen zu schlagen.

Wird es jemals dazu kommen? Vorerst wahrscheinlich nicht. Es klingt einfach unwahrscheinlich, dass Tolkiens Erben in den nächsten Jahren den Entschluss fassen, Videospielen Rechte einzuräumen, die sie Hollywood nicht gewähren. Ich halte das für bedauerlich, kann es ihnen aber auch nicht verübeln. Denn noch müssen Spiele in Mittelerde erst beweisen, dass sie den Geist der Vorlage einfangen können.

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