Endlich gibt es wieder Gründe fürs Kino - aber Leute rauben mir die Lust

The Flash, Spider-Man, Creed - es gibt endlich wieder handfeste Gründe, ins Kino zu gehen. Doch jeder Besuch treibt Redaktionsleiter Dimi weiter in die Verzweiflung.

Würde Dimi sein Geld nicht mit Gaming-Krams verdienen, wäre er sicher im Filmjournalismus gelandet. Würde Dimi sein Geld nicht mit Gaming-Krams verdienen, wäre er sicher im Filmjournalismus gelandet.

Ich liebe Kino. Ich liebe Kino so sehr, dass ich Kultur, Theater, Film studiert habe. Ich liebe es so sehr, dass ich 2009 nach dem Abi jeden Cent meines mickrigen Zivildienstgehalts in die nächste Kinokarte gesteckt habe, manchmal zwei- oder dreimal die Woche. Ich bin nicht nur in gute Filme gegangen, sondern auch willentlich in absoluten Schrott - von Avatar über Terminator 4 bis zu My Bloody Valentine 3D. Danach habe ich in Artikeln gewälzt, wie die Filme entstanden sind, mich durch die saumäßig teure Zeitschrift Digital Production gewühlt, weil ich unbedingt wissen wollte, wieso die Effekte in Prince of Persia so cool aussahen.

Und trotzdem verliere ich gerade die Lust am Kino.

Nach fast dreijähriger Covid-Pause hättet ihr mich mal sehen sollen: Die Haut blasser, das Bäuchlein runder, aber herrje, habe ich innerlich gestrahlt bei dem Gedanken, endlich wieder ins Kino zu gehen! Alleine John Wick 4, was ein Feuerwerk für die große Leinwand!

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Aber Vorstellung um Vorstellung rutscht mir das Lächeln aus dem Gesicht, bis ich zuletzt mit einem schnaubenden Ich habe die Schnauze voll vom Kino nach Hause gegangen bin. Irgendwas hat sich verändert in den letzten drei Jahren, vielleicht ich, vielleicht die Leute.

In jedem (!) Saal, den ich 2023 besucht habe, blinken und bimmeln nun die Smartphones, es wird getratscht und gepöbelt weit über die Grenzen vom dem, was ich bisher kenne. Der Film spielt für viele Anwesende zweite Geige. Ich bin kein elitärer Cineast, dem bei jedem störenden Mucks vor Empörung das Monokel zwischen die Sitze rutscht. Ich gönne mir im Kino große Nachos mit doppelt Käse, einen riesigen Becher Cola, zusammen teurer als der Eintritt, aber hey, es ist eben Kino! Wenn jemand im Saal neben mir einen dummen Witz reißt, lache ich mit, alles easy.

Und diese ganzen Handy bitte aus-Werbespots hatten für mich immer einen längeren Bart als BeardMeetsFood. Dann vergisst eben mal wer den Lautlos-Modus und es ruft in peinlicher Stille die Mama an. Passiert, kein Ding.

Aber jetzt ist es irgendwie anders.

Dimitry Halley
Dimitry Halley

GameStar-Redaktionsleiter Dimi verbringt 90 Prozent seines Alltags vor Bildschirmen. Im Job tippt er Artikel, chattet und callt mit dem Team, privat zockt er stundenlang mit Kumpels oder kloppt eine Netflix-Staffel nach der nächsten durch. Dazu noch Smartphone, Social Media ... bis Dimi irgendwann festgestellt hat, dass er aus Reflex in jeder Ladepause zum Handy greift. Nach wochenlangem Social-Media-Detox ist für ihn klar: Wir müssen aufpassen, was wir unserem Kopf da antrainieren.

Der Wichser hat's richtig bekommen

Neben mir sitzen zum Beispiel zwei junge Frauen, die während der Vorstellung mit irgendeinem Dude snapchatten, also Bilder und Videos aufnehmen und verschicken. Mit Kamerablitz. Sie hören auch Sprachnachrichten ab. Hinter mir sitzt ein Kerl, bei dem es absolut keinen Unterschied gibt zwischen dem, was er auf der Leinwand sieht, was er darüber denkt und laut ausspricht.

Da fliegen dann expressive Aphorismen wie Der Wichser hat's richtig bekommen, Digger durch den Saal, nachdem er seinem Nebenmann bereits die Lebensweisheit Pissen macht man vorher, du dreckiger Hundesohn mit auf den Weg gegeben hat. Er und seine Kumpels verlassen den Saal, als das Monster des Horrorfilms verbrennt. Sie warten nicht mal das Ende der Geschichte ab.

Anderer Film: Neben mir unterhält sich ein junges Paar während Creed 3 laut darüber, wie wagemutig mal jemand in einer anderen Vorstellung Penis! durch den Saal gebrüllt hat. Sie wägen das Für und Wider ab, es jetzt auch mal zu probieren, aber weil keiner ihnen dafür einen Fünfer zusteckt, entscheiden sie sich dagegen. Der Markt regelt also doch.

In Creed 3 muss sich Adonis seiner Vergangenheit stellen Video starten 0:51 In Creed 3 muss sich Adonis seiner Vergangenheit stellen

Derweil erreicht Creed 3 seinen emotionalsten Moment. Zwei Stunden spitzt sich der Film darauf zu, dass Hauptcharakter Creed und sein Rivale ihren Konflikt endlich lösen. Ich muss genau hinhören, denn zeitgleich rennen fünf Teenager laut lachend Richtung Ausgang, die Smartphone-Bildschirme bereits angeschaltet. Das ist so, als würde man die Ich bin dein Vater-Szene von Star Wars verpassen.

Und bevor jetzt wer denkt Gut, da wütet ein offensichtlich alter Mann nur über die Jugend: Weit gefehlt! Vor mir sitzen ältere Herren mit Halbglatze und Kurzärmelhemd, die keine fünf Minuten ihren elenden Handy-Bildschirm auslassen können, weil sie Mails checken, Whatsapp checken, dann wieder Mails checken. Einer liest sogar News. Im Kino! In solchen Momenten wünsche ich allen im Saal O2-Verträge, dann hätte eh niemand Empfang.

Es geht nicht um Wut

Aus mir spricht keine Wut. Okay, vielleicht ein bisschen, aber vielmehr finde ich's so unglaublich schade, dass viele Menschen mit ihren Aufmerksamkeitsspannen kämpfen. Studien dazu gibt's ja zuhauf, aber hier im Kino fällt es mir zum ersten Mal wirklich spürbar auf: Viele Leute können nicht mehr abschalten, buchstäblich wie bildlich.

Dabei ist Kino doch explizit darauf ausgelegt, dass die Leute sich im Film verlieren. Ich soll ja eben nicht wie daheim auf eine kleine Mattscheibe gucken, während ich links und rechts daneben die Staubflusen auf dem TV-Schrank zählen kann.

Abgedunkelter Saal, aufgedrehter Sound, riesige Leinwand: Kino lässt mich vergessen, zumindest für zwei Stunden. Mit 13 Jahren den ersten Liebeskummer, mit 23 Jahren den elenden Uni-Prüfungsstress und jetzt mit 33 Jahren die Widrigkeiten des Erwachsenenlebens, Steuererklärung, Inflation, Gaspreise, den ganzen Bumms.

Es geht nicht nur um Eskapismus, also darum, mich im 100. Marvelfilm vom Krachbumm berieseln zu lassen. Ein Kinofilm entführt meine Gedanken, mal lustig, mal ernst, mal komplex, mal simpel. Er wäscht den Kopf durch, defokussiert ihn vom Alltag, konzentriert ihn auf neue Themen, Welten, Perspektiven, damit die ganzen Rohre im Hirn mal ordentlich durchgepustet werden. Kino kann therapeutisch sein, aber das funktioniert nicht, wenn ich mich während der Vorstellung permanent beim echten Leben rückversichern muss, bloß nichts zu verpassen.

Ein Gedanke zum Schluss: In meiner Schulzeit vor 20 Jahren entbrannten heftige Diskussionen, als sich die ersten MP3-Player etablierten. Wie immer bei technischen Neuerungen reagierten viele Lehrerinnen wie Lehrer überfordert, doch an die Warnung meines Deutschlehrers erinnere ich mich bis heute: Nehmt ab und zu die Stecker aus dem Ohr, damit euer Kopf nicht verlernt, die vermeintlich langweiligen Geräusche zu hören. Die Mitschüler auf dem Flur, das Poltern der Ranzen, das Quietschen des Overhead-Projektors.

Heute weiß ich, warum das wichtig ist. Wer Langeweile verlernt, verlernt die Ruhe. Also wenn ihr ins Kino geht: Lasst euer scheiß Handy aus. Dann haben wir alle wieder mehr Spaß.

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