Gaming-Hauptfiguren: Bitte, bitte haltet häufiger die Klappe!

Meinung: Videospielhelden sprechen zu lassen, ist eine Kunst für sich. Und wenn es nichts wichtiges zu sagen gibt, sollten unsere Charaktere lieber still bleiben.

Ich betrachte den völlig belanglos aussehenden virtuellen Kamm, den meine Heldin soeben aufgenommen hat, als ich - zum gefühlt hundertsten Mal an diesem Abend - ihre Stimme höre. »Schöner Kamm.« Wow. Etwas fassungslos muss ich erstmal meine Kopfhörer absetzen. Genug gespielt für heute.

Innerhalb der letzten halben Stunde habe ich erfahren, dass die Heldin aus Call of the Sea eine Hautkrankheit hat, ihren Mann auf einer Insel sucht, oft einen kuriosen Traum hat, sich Vorwürfe wegen dem Tod ihrer Mutter macht und gerade einen Kamm aufgehoben hat. Fünf Dinge, die ich eigentlich ohne Worte verstanden hätte. Fünf Dinge, die mir die Heldin trotzdem erklärt hat.

Und obwohl das Story-Adventure Call of the Sea das Prinzip des Labertaschen-Helden in vielen Punkten auf die Spitze treibt, ist das Spiel leider in guter Gesellschaft. In den letzten Jahren scheinen Spiele mehr und mehr zu glauben, dass man der Spielerschaft einfach alles erklären muss. Und opfern dafür bereitwillig ihre Atmosphäre - machen spannende Momente zu belanglos.

Auf der einen Seite belächeln wir gerne mal die ewig schweigenden Heldinnen und Helden, die selbst in emotionalen Situationen keinen Ton rausbringen. Würde man etwa Gordon Freemann und Claude Speed (GTA 3) auf eine Party einladen, würde diese zu 100 Prozent aus peinlichem Schweigen bestehen. Aber andersrum kann es eben auch in die Hose gehen. Warum also funktioniert es nicht, wenn Hauptfiguren zu viel reden und in welchen Momenten sollten sie dringend mal lernen, die Klappe zu halten?

Claude, was sagen Sie dazu? Vermutlich nichts. Claude, was sagen Sie dazu? Vermutlich nichts.

Bitte nochmal für Dumme

Am schlimmsten sind ewig vor sich hin quatschende Hauptfiguren, wenn ihre Monologe ausschließlich zur Exposition und dem Übererklären von Handlung dienen - die man mit etwas Mühe auch organischer ins Spiel hätte einbauen können. Call of the Sea etwa beginnt mit einem Traum, in dem wir aus der Ego-Perspektive durch eine kuriose Unterwasserlandschaft tauchen.

Heldin Norah erzählt uns vorsichtshalber genau, was wir sehen. Eine Treppe, eine Tür, eine kaputte Spieluhr. Danke, Norah. Im Anschluss erwacht sie allen Ernstes mit den Worten: »Wieder diese schrecklichen Träume! Ich habe sie immer wieder, seit meine Mutter gestorben ist und mir diese Spieluhr hinterlassen hat. Harry hat immer gesagt, dass dieses alte Familienerbstück etwas mit der seltsamen Krankheit in meiner Familie zu tun hat.«

Bevor wir überhaupt eine Sekunde Zeit bekommen, den Traum zu hinterfragen und vielleicht spannend zu finden, überrollt uns Info-Zug Norah schon mit einer Erklärungswelle. Keine offenen Fragen mehr. Spannung vorbei.

Call of the Sea: Trailer zeigt die Story des düsteren Insel-Adventures Video starten 1:13 Call of the Sea: Trailer zeigt die Story des düsteren Insel-Adventures

Und mal ehrlich, wer würde das so sagen? Wann seid ihr zuletzt aus einem Alptraum erwacht und habt euch erstmal aufrecht im Bett sitzend laut erklärt, seit wann und warum ihr diese Träume habt und dann noch die Krankheitsgeschichte eurer Familie aufgedröselt? Die Szene hätte ein schöner Einstieg sein können, wenn die Heldin einfach mit einem erschrockenen »Nicht schon wieder« erwacht wäre. Auch dann hätten wir verstanden, dass sie diesen Traum immer wieder hat. Ihre Hautkrankheit ist übrigens das erste, das wir sehen, als sie aus der Ego-Perspektive ihre Arme ausstreckt. Keine Erklärung notwendig.

Und obwohl Call of the Sea eine spannende Geschichte erzählt und einige runde Rätsel bietet, kann ich nichts davon wirklich genießen. Denn sobald ein Moment droht, interessant zu werden, wartet Norah schon freudig darauf, mir nochmal zu erklären, was ich gerade erlebt habe. Mehr als einmal möchte ich sie anschreien: »Ich weiß Norah, ich war dabei!« Denn die Heldin redet in Wahrheit nicht mit sich selbst, wie das Spiel mir weismachen möchte.

Redest du mit mir?

In Spielen aus der Ego-Sicht mit sprechenden Hauptfiguren habe ich mich oft gefragt, ob ich gerade ihre Gedanken höre, oder ob sie tatsächlich laut zu sich sprechen. Denn meistens wirkte es wie keines von beidem. Bis mir klar wurde: Sie reden mit mir.

Denn ich bin der einzige Grund, warum eine Figur im Detail erklären sollte, was gerade vor sich geht, was vor einer Minute vor sich ging und was sie heute morgen zum Frühstück hatte. Weil die Entwickler glauben, dass ich als Spieler die Story sonst nicht verstehe.

Das Problem ist: Wenn eine Figur die ganze Zeit aktiv mit mir redet (und es keine beabsichtigte Meta-Ebene wie in Stanley Parable und Co. gibt), dann glaube ich irgendwann nicht mehr, in ihre Rolle geschlüpft zu sein. Sie macht mir ja sehr deutlich, dass wir zwei verschiedene Personen sind und lässt so gar nicht erst zu, dass ich mich irgendwie als Teil der Geschichte fühle. Sie hält mich auf Abstand.

Der Kniff der Helden als Geschichtenerzähler kann durchaus funktionieren - sofern es einen guten Grund gibt, warum der Charakter die Handlung so ausschweifend beschreibt. In What Remains of Edith Finch etwa hören wir die Stimme unserer Heldin, wie sie Zeilen aus ihrem Tagebuch vorliest, während wir aktiv die Dinge erleben, von denen sie darin erzählt. Und von Anfang an ist klar, dass dieses Tagebuch sich an jemanden richtet, für den die Details der Geschichte wichtig sind. So fühlt sich die Stimme nie unpassend oder irritierend an.

Ich sage also nicht, dass alle Hauptfiguren in Zukunft stumm bleiben sollen. Aber ich wünsche mir mehr Spiele, in denen Charaktere auch mal sprechen, wie ich es in ihrer Situation selbst tun würde. Resident Evil 2 Remake mag kein rundum perfektes Beispiel dafür sein, aber ich werde nie den Moment vergessen, als Leon und ich beim Anblick vom um die Ecke stürmenden Mr. X gleichzeitig laut »Ach, komm schon!« riefen. Hätte er stattdessen gesagt »Oh nein, das ist wieder Mr. X, auch Tyrant genannt, ein von Umbrella geschaffener Super-Soldat!« - der Effekt wäre wohl ein anderer gewesen.

Liebe Entwickler: Traut euch, eure Hauptfiguren öfter reagieren zu lassen wie echte Menschen. Auch auf die Gefahr hin, dass ich einige Story-Schnipsel erst etwas später verstehe. Denn sonst wirken sie nicht wie tolle Charaktere, in dessen Rolle ich schlüpfe. Sondern wie jemand, der im Kino vor mir sitzt und die ganze Zeit reinredet.

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