Man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, um zu wissen, dass wir alle permanent von Kameras beobachtet werden. Jeder Laptop und jedes Smartphone sind unter Umständen potenzielle Überwachungskameras, und Gespräche lassen sich im Verdachtsfall auch von Sicherheitsbehörden mitschneiden.
Doch was wäre, wenn so eine geheime Datenbank mit Hunderten von privaten Videotelefonaten in die Öffentlichkeit gelangen würde? Ist es legitim oder moralisch vertretbar, als Whistleblower und Journalist in die intimste Privatsphäre von Menschen einzudringen, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen?
Genau vor dieses Dilemma stellt uns Telling Lies, das neue Spiel von Autor Sam Barlow, der 2015 mit seinem ungewöhnlichen Adventure-Experiment Her Story einen Überraschungserfolg feiern konnte. Die innovative Erzähltechnik bleibt auch im deutlich ambitionierteren Nachfolger die Kernmechanik: Wir erleben die Geschichte nicht chronologisch, sondern müssen sie uns in bester Detektivmanier Stück für Stück aus über 170 Videoschnippseln selbst zusammenpuzzeln.
Mission
Dazu steht uns eine schlichte Suchmaske auf einem virtuellen Desktop zur Verfügung. Geben wir dort Begriffe wie »Liebe« oder »Drogen« ein, spuckt uns diese bis zu fünf Videos aus, in denen diese Wörter vorkommen. Die Aufzeichnungen decken die Privatgespräche über einen Zeitraum von zwei Jahren des FBI-Agenten David ab, der in einen Skandal verwickelt ist, den wir als Investigativjournalistin aufdecken wollen.
Dabei ist uns anfangs überhaupt nicht klar, nach was wir eigentlich genau suchen. Anders als in Her Story, in dem wir nur die polizeilichen Aussagen einer Person durchstöbern, ist Davids Geschichte deutlich komplexer. Telling Lies umfasst mehrere ineinander verwobene Erzählstränge mit unterschiedlichen Menschen, die wir zueinander in Verbindung bringen müssen.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Videos immer nur eine Seite der Konversation zeigen. Um ein Gespräch komplett zu verstehen, ist es also nötig herausfinden, mit wem David eigentlich spricht. Der große Reiz liegt darin, die richtigen Schlüsselwörter zu entdecken, die uns dann zur anderen Seite des Dialogs führen.
Fast schon unangenehm wird es, wenn wir in unserer Recherche auf sehr intime Momente stoßen. Denn natürlich haben nicht alle Videos etwas mit Davids Job als FBI-Agent zu tun. Ist es wirklich relevant, dass wir ihn und seine Frau dabei belauschen, wie sie ihre Ehe hinterfragen oder über ihr Liebesleben sinnieren?
Auch lassen sich viele familiäre und rührende Szenen finden, wie er etwa seiner Tochter eine Gutenachtgeschichte aus ihrem Lieblingsbuch vorliest. Mit den richtigen Suchbegriffen finden wir aber auch entlarvende Gespräche, die den Hauptcharakter mit einer erotischen Webcam-Schönheit in einem Sexchat zeigt und stoßen auf seine Einsatzbesprechungen mit Vorgesetzten.
Puzzle
Mit jedem Suchbegriff und jedem neuen Videofund wird der riesige Flickenteppich weniger löcherig. Nach rund zwei bis drei Stunden verstehen wir so langsam, wie Davids Mission abgelaufen ist und wie diese ihn und die Menschen um ihn herum verändert hat. Die eigentliche Erzählung ist dabei gar nicht das, was das Story-Experiment trägt und so bemerkenswert macht.
Telling Lies funktioniert so gut, weil es Sam Barlow mehr um die Beziehung der Figuren und ihren Umgang mit Loyalität, Liebe und natürlich der Wahrheit geht. Er stellt die Charaktere, ihre Gefühle und ihre Gedanken in den Mittelpunkt unserer Recherche.
Die Rahmenhandlung liefert dabei nur genau das: einen Rahmen. Er ist der Grund, warum sich diese bestimmte Gruppe von Menschen begegnet und ihre Wege sich kreuzen. Nur ein paar wenige Clips zeigen direkte Handlungen.
Die meiste Zeit verbringen wir damit, Menschen zu beobachten, die sich streiten, sich ihre Liebe erklären, die sich drohen und verzeihen, die singen, flirten und hitzig diskutieren oder sich auch einfach beim Einschlafen zuschauen. Wie reale Menschen eben (Fern)-Beziehungen leben, wenn vermeintlich niemand zusieht.
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