Tides of Numenera hat sich Großes vorgenommen: den Geist von Planescape Torment einzufangen! Einem Spiel, das eine so großartige Story hatte, dass es selbst Bestseller-Fantasyautoren Ehrfurcht einjagt. Zum Beispiel Patrick Rothfuss, mit seinem »Name des Windes« einer der Stars des Genres - und ein so riesiger Torment-Fan, dass er am Numenera-Nachfolger sogar mitschreibt.
Überhaupt hat Entwickler inXile ein Team am Start, mit dem ein geistiger Torment-Erbe durchaus gelingen könnte: Unter anderem komponiert Mark Morgan wieder den Soundtrack und Chefschreiber ColinMcComb war schon am Original-Torment und am Planescape-Setting von Dungeons & Dragons beteiligt, das dem Spiel als Szenario diente. Trotzdem, der Name Torment weckt in Rollenspiel-Connoisseuren höchste Ansprüche: Ohne erstklassige Dialoge, eine Story voller tiefschürfender Fragen und eine faszinierende Spielwelt geht gar nichts. Um herauszufinden, ob Torment: Tides of Numenera dazu das Zeug hat, haben wir uns in die Betaversion gestürzt.
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Wie spielen?
Beta-Zugang für Torment: Tides of Numenera war ursprünglich Kickstarter-Unterstützern vorbehalten, inzwischen kann jeder das Spiel im Steam Early Access für 44,99€ kaufen.
Text ist König
Und die beginnt doch tatsächlich mit nichts als einem schwarzen Bildschirm und einem ganz klassischen Dialogfenster. Eröffnet man so heutzutage ein Spiel? Natürlich nicht - und genau darum geht's ja. Das neue Torment ist vor allem ein textbasiertes, ein storybasiertes Rollenspiel, und macht kein Geheimnis daraus. Wer nicht einen Großteil der Spielzeit mit Lesen verbringen will, dem sagt es gleich zu Beginn: »Das hier ist nix für dich. Zisch ab!« So wenig auf moderne Ansprüche zu geben, ist mutig, aber für dieses Spiel der einzig richtige Schritt. Denn wer, wenn nicht Rollenspieler der ganz alten Schule, wünschen sich denn am sehnlichsten ein neues Torment?
Wie früher steckt uns Tides of Numenera in die Haut einer Spielfigur, die zu Beginn keine Ahnung hat, wer sie eigentlich ist. Daran ist der wandelnde Gott schuld. Diese mysteriöse Gestalt hat einen Weg zur Unsterblichkeit entdeckt, indem sie einfach immer von einem Körper zum nächsten hüpft. Was der Gott nicht weiß: Die weggeworfenen Hüllen entwickeln danach ihr eigenes Bewusstsein und wir sind eine davon. Die letzte, um genau zu sein, der »Last Castoff«. Was nicht nur bedeutet, dass uns haufenweise Erinnerungen anderer Hüllen und Leben im Kopf herumspuken, sondern auch dass die Feinde unseres Schöpfers hinter uns her sind. Allen voran eine finstere Macht, die nur als »The Sorrow« bekannt ist.
Während wir versuchen, dem zu entgehen und mehr über unsere Natur herauszufinden, sollen wir uns auch aus dem Schatten des wandelnden Gottes erheben und unseren eigenen Pfad schaffen. Wie wir die Welt beeinflussen und welches Vermächtnis wir hinterlassen, gehört zu den zentralen Themen des Spiels, zusammengefasst in seiner Kernfrage: Was bedeutet ein einzelnes Leben? Zumindest was interessante Story-Ansätze angeht muss sich Tides of Numenera hinter dem alten Torment also keineswegs verstecken.
Du bist, was du tust
Die Charaktererstellung flechtet Tides of Numenera in die erste Spielstunde ein: Wir erwachen in einem Labyrinth unseres eigenen Verstands und können erst von unserem Körper Besitz ergreifen, wenn wir unseren Weg hinaus finden. Wie wir uns dabei verhalten, legt dann gleich unsere Charaktereigenschaften fest. Wir tappen immer wieder in bruchstückhafte Erinnerungen, die Entscheidungen von uns verlangen. Wer sich dann beispielsweise in einer Schlacht auf Technik, Magie und seine Geistesgaben verlässt, dem schreibt das Spiel mehr Intelligenzpunkte ins Charakterprofil - ein eleganter und organischer Weg, unseren Charakter direkt im Verlauf der Story zu basteln.
Andere Entscheidungen treffen wir ebenfalls in Erinnerungen und Visionen, etwa die Wahl der Klasse. Derer gibt es drei: Der Nano ist der Magier von Tides of Numenera und macht sich die Artefakte verlorener Hochkulturen zunutze, während der Glaive als Krieger ins Feld zieht - ob nun als brutaler Schlägertyp oder flinker Fechter, das bleibt uns überlassen. In der Mitte steht der Jack, der von allem ein bisschen was kann.
Die Charakterwahl ist clever gestaltet: Neben der Analyse unserer Vorgehensweise will sie auch mehr über unsere Persönlichkeit wissen und fragt mit kniffligen Moralentscheidungen ab, welchen Prinzipien wir folgen. Daraus ergibt sich eine Beschreibung für Ein wenig schießt Tides of Numenera aber über sein Ziel hinaus: Besagte Entscheidungen treffen wir in einer zusammenhanglosen Erinnerung nach der anderen, vermutlich aus unterschiedlichen Leben des wandelnden Gotts oder sogar ganz anderer Wesen.
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Was zunächst fasziniert, wird gegen Ende der Einleitung ermüdend, weil wir zu diesen Situationen keine tiefere emotionale Bindung aufbauen, keinen Kontext haben und es sich einfach ein Stückchen zu lange zieht. Auch wenn die Texte durchweg toll geschrieben sind, hier wäre weniger mehr gewesen.
Keine Sorge übrigens: Wer seinen Charakter lieber exakt definieren will statt die Interpretation dem Spiel zu überlassen, darf am Ende nochmal in einem Menü alle Details nachjustieren. Dort wählen wir dann auch aktive Fähigkeiten wie Schadenszauber und passive Skills wie Überredungskunst oder das Wissen, wie wir Erinnerungen des wandelnden Gottes ans Tageslicht holen.
Bizarre neue Welt
Danach entlässt uns das Spiel in die Welt - die wie schon gesagt nichts mehr mit Dungeons & Dragons oder dem Planescape-Szenario zu tun hat. Was aber keineswegs heißen soll, dass sie nicht verdammt interessant zu erkunden wäre! Als Vorlage dient diesmal ein anderes Pen&Paper-Rollenspiel: Numenera, das von einigen der Köpfe hinter Planescape erdacht wurde.
Es vermischt Science Fiction und Fantasy und spielt in der fernen Zukunft der »neunten Welt«. Schon achtmal ist die Menschheit zu ungeahnten Höhen emporgestiegen und unausweichlich wieder gefallen. Die Landschaft ist gespickt mit grotesken Artefakten aller Art, die von der Macht dieser Vergangenheit zeugen und heiß begehrt sind - obwohl viele davon sich dem gegenwärtigen Verständnis entziehen.
Dementsprechend gibt es in Tides of Numenera jede Menge enorm ungewöhnlicher Figuren zu entdecken. In der ersten großen Stadt Sagus Cliffs sorgen zum Beispiel Milizen für Ordnung. Diese werden von einer Maschine erschaffen, die jedem Bewohner ein Jahr seines Lebens entzieht und daraus einen Ordnungshüter formt - der Preis dafür, ein offizieller Bürger der Stadt zu werden.
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Wie makaber das wirklich ist, enthüllt eine frühe Quest von einem dieser Milizionäre. Eigentlich sollen die mehr Maschine als Mensch sein, aber dieser hat von seinem Spender ein besonders desaströses Jahr bekommen: Eins, in dem er sonst zurück in seine kriminelle Vergangenheit verfallen wäre, einen verheerenden Brand in der Stadt verursacht hätte und dabei selbst gestorben wäre. Unwissentlich hat der Bürger diese Zukunft der Maschine geopfert, statt sie selbst zu erleben und ist damit dem Tod von der Schippe gesprungen - aber sein Milizmann muss nun mit diesen »Erinnerungen« leben und wünscht sich verzweifelt ein anderes Jahr.
Tides of Numenera steckt voller solcher bizarrer Szenarien, die aber nicht einfach um der Absurdität willen abgedreht sind, sondern oft interessante Fragen aufwerfen, uns berühren oder faszinierende Charaktere zeichnen. Vor allem, weil die Texte durchweg auf sehr hohem Niveau geschrieben sind - wie es sich für den Torment-Erben gehört!
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