Eines von Wladimir Lenins berühmtesten Zitaten lautet: »Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes«. Damals, ein paar Jahre nach der Oktoberrevolution von 1917, befindet sich Russland in der Übergangsphase von einer bäuerlich geprägten Gesellschaft hin zu einem fortschrittlichen Industriestaat. Die Elektrifizierung steht in diesem Sinne für Moderne, Aufbruch und den Sieg des Marxismus. Die Sowjetunion in Atomic Heart hat elektrifizierte Fabrikhallen schon lange perfektioniert.
In der alternativen Geschichtsschreibung des Spiels ist die UdSSR im Jahr 1955 ein Ort der Wunder, wo Roboter das Proletariat befreiten und den sowjetischen Bürgern so die Möglichkeit gaben, die Kolonialisierung des Mars zu planen. Im Zentrum dabei steht das Wundermittel Polymer, mithilfe dessen sich sämtliche physikalischen Gesetze und die bekannte Kalter-Krieg-Konstellation biegen lassen.
Schon Monate vor Veröffentlichung steht Atomic Heart deswegen in der Kritik, weil die hier präsentierte Selbstverständlichkeit von Hammer und Sichel angesichts der realen Gräueltaten nach dem völkerrechtswidrigen Angriffs Russlands auf die Ukraine erschreckend relevant sind. Im GameStar-Test loben wir das unverbrauchte Design der Welt und bemängeln die plumpe Geschichte, sehen aber insgesamt keine Verherrlichung der Sowjetunion. Mehr dazu hört ihr in unserem Podcast:
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Christian Schiffer kommt im Deutschlandfunk zu einem anderen Fazit. Die Allgegenwärtigkeit der sowjetischen Übermachtphantasien mache das Spiel für ihn in Kriegszeiten »moralisch unspielbar«. Für Zeit Online zieht Matthias Kreienbrink wiederum Vergleiche zu Bioshock und Wolfenstein. Er argumentiert, dass die »Überdretheit« von Atomic Heart bei weitem kein Vehikel seien, um die UdSSR in irgendeiner Weise zu entschuldigen. Die ukrainische Regierung fordert in Form des stellvertretenden Digital-Ministers, Alexander Bornyakov, den Verkauf des Spiels einzustellen, weil es unter anderem die sowjetische Ideologie romantisiere.
Es ist eine aufgeladene Debatte, die zurecht die Frage stellt, inwieweit ein Videospiel ein totalitäres System nicht nur als beiläufige Hintergrundtapete nutzt, sondern diesem System bei seiner Rehabilitierung hilft, absichtlich oder nicht. Um dieser Frage nachzugehen, haben wir unter anderem dem Historiker Dr. Matthäus Wehowski vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden das Spiel gezeigt. Dr. Wehowski ist Experte für die Geschichte der Sowjetunion und des zeitgenössischen Russlands.
Spoiler-Warnung: Um ausführlich die Geschehnisse in Atomic Heart zu besprechen, ist es nötig, die gesamte Story dafür in den Blick zu nehmen. Wenn ihr den Shooter noch nicht gespielt habt, seid gewarnt. Wer vorher gerne allgemeinere Infos zur Kontroverse lesen will, schaut sich unseren Übersichtsartikel an:
Detailverliebtheit ohne Akkuratesse
Besonders am Anfang präsentiert sich Atomic Heart von seiner erzählerisch interessantesten Seite. Hauptcharakter Major Sergei Nechaev, kurz P-3, wohnt einer Parade bei, die mit einer Rede des Polymer-Erfinders Sechenov endet. Die Bezüge zur Bioshock-Reihe mit seiner dichten Erzählweise scheinen durch. Man durchstreift belebte Straßen, an allen Ecken zeigen sich die Menschen von der scheinbaren Utopie begeistert. Friedliche Roboter verteilen Eis, klären einen gleichzeitig aber darüber auf, was es in der Waffenforschung Neues zu berichten gibt.
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