Diablo 2: Resurrected ist furchtbar altmodisch und gerade deshalb für mich genau richtig

Meinung: Das Diablo-Remaster haut allen mit Anlauf ins Dämonen-Antlitz, die auf eine zeitgemäße Interpretation des Action-RPG-Klassikers hoffen. Für Heiko genau die richtige Entscheidung!

»Wo zum Geier waren nochmal die Hotkeys für meine Fähigkeiten?« Im Eifer des Action-Rollenspiel-Gefechts hämmere ich die genre-gestählt auf die Nummerntasten … und schlucke einen Heiltrank nach dem nächsten, obwohl ich bereits bei maximaler Lebensenergie stehe.

Erst dann erinnere ich mich, wie es vor 21 Jahren in Diablo 2 war: Die Fähigkeiten zunächst den Funktionstasten zuweisen, um so im Gefecht die Belegung der rechten Maustaste zu wechseln. Was für ein unkomfortabler Quatsch! Aber für mich eins der schönsten Spielerlebnisse der letzten Wochen.

Der Autor

GameStar-Chefredakteur Heiko Klinge hat mit Nostalgie eigentlich nichts am Hut und spielt Remaster nur in absoluten Ausnahmefällen. Denn grundsätzlich findet er, dass früher eben nicht alles besser war und sich Computerspiele durchaus positiv entwickelt haben. Und freche Abzockversuche gab's auch schon in den 80ern. Umso überraschter war er jetzt, welche Gefühle Diablo 2: Resurrected in ihm auslösen konnte. Diablo 4 darf dann bitte das Beste aus Teil 2 und 3 in sich vereinen.

Drei Gründe für den Zauber der Nostalgie

Wie kann es sein, dass mir derart altmodisches Spieldesign solch ein Lächeln ins Gesicht zaubert? Dabei bin ich eigentlich niemand, der in der Vergangenheit lebt. Meine CD- und DVD-Sammlungen habe ich schon vor über zehn Jahren vertickt, bei Büchern und Spielen behalte ich lediglich besonders schicke Special Editions als Regal-Aufhübscher.

Und beim Test des ansonsten tollen Remakes von Tony Hawk's Pro Skater 1+2 (ironischerweise vom gleichen Entwicklerstudio) habe ich mich sogar noch über das veraltete Spiel- und Leveldesign mokiert. Warum funktioniert für mich bei Diablo 2: Resurrected der Zauber der Nostalgie, der mich normalerweise komplett kalt lässt?

Grund 1: das optische Aha-Erlebnis. Der am häufigsten gehörte Nostalgiker-Wunsch lautet »Müsste man nur nochmal mit moderner Grafik bringen«, und diesen Wunsch erfüllt Diablo 2: Resurrected für mich nahezu perfekt. Es fängt den Stil des Originals mit beeindruckender Liebe zum Detail ein, sieht aber selbst nach modernen Maßstäben richtig schick aus. Bis hin zur Komplettüberarbeitung der legendären Rendersequenzen.

Diablo 2: Resurrected: Cinematic Trailer zum ersten Akt Video starten 7:15 Diablo 2: Resurrected: Cinematic Trailer zum ersten Akt

Und der fließende Wechsel zwischen Pixel- und 3D-Optik fühlt sich so an, als würde man sich alte vergilbte Kinderfotos anschauen, die im Kopf dann geschmeidig animierte Hochglanz-Erinnerungen wecken. Aber damit das funktioniert, braucht es eben diese Erinnerungen!

Grund 2: die nostalgische Verklärung. Dieser Grund funktioniert besser, je länger ihr das seinerzeit heißgeliebte Original nicht mehr angefasst habt. Bei mir dürften das locker 15 Jahre sein, vielleicht sogar mehr.

Unsere Erinnerung spielt uns hier nämlich manchen Streich. Wir behalten das grundsätzliche Gefühl und besondere Highlights von damals im Kopf, vergessen im Laufe der Jahre aber unzählige Details. Und diese Lücken werden von neu gelernten, etablierten Genre-Standards abgelöst.

Ich hätte zum Beispiel darauf schwören können, dass es in Diablo 2 eine Skill-Leiste gab und hatte die Fummelei mit den Funktionstasten komplett verdrängt. Die fehlende Sortierfunktion fürs Inventar, die nicht stapelbaren Juwelen, dass sich die Automap standardmäßig komplett über den Bildschirm kleistert und erst per V-Taste an den Bildschirmrand rückt … war mir alles entfallen. Mehr dazu, wie uns Nostalgie manchmal übers Ohr haut, lest ihr im Text von Kollege Sasha Penzhorn:

Das Erstaunliche ist: Ich ärgere mich nicht über diese »Ach so war das!?!«-Komfortmängel, sondern freue mich regelrecht darüber, all diese verlorenen Erinnerungen wiederzuentdecken. Ein bisschen so, wie man mit alten Schulfreundinnen und -freunden über die guten alten Zeiten schwelgt, in denen natürlich in Wahrheit längst nicht alles gut war.

Für den Wiedereinstieg empfehle ich euch übrigens unseren extra-umfangreichen Plus-Guide, der für Neueinsteiger wie Veteranen wirklich tonnenweise hilfreiche Tipps auf Lager hat, ohne das oben beschriebene Aha-Erlebnis einzuschränken:

Grund 3: kein neumodischer Schnickschnack. Eigentlich ist es ein Armutszeugnis, aber abseits von Komfortfunktionen und Details spielt sich Diablo 2 nicht grundlegend anders als moderne Action-Rollenspiele. Blizzard setzte anno 2000 einen Standard, der bis heute Bestand hat - einschließlich des eigenen Nachfolgers.

Aus meiner Sicht gab es in den 21 Jahren keine einzige Innovation, die meinen Anspruch an ein klassisches Action-Rollenspiel maßgeblich verändert hätte. Das Charaktersystem von Diablo 2 ziehe ich persönlich sogar bis heute jedem Path of Exile, Grim Dawn oder Diablo 3 vor.

Ein Effekt ähnlich wie beim Konzert einer alten Lieblingsband, wo ich eigentlich nur die Hits von früher hören will und nicht die Songs vom neuen Album. Dankenswerterweise verzichtet Diablo 2: Resurrected außerdem darauf, über das Gefühl von damals irgendwelchen neumodischen Quatsch zu stülpen. Mit Grauen erinnert sich der alte Sack in mir an die völlig überflüssige Klamotten-Freischaltorgie eines Tony Hawk's Pro Skater 1+2.

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Optionaler Komfort ist auch keine Lösung!

Die coolen Kids von heute mögen mir jetzt sagen: »Spiel du doch deinen alten Kram! Aber was spricht denn dagegen, die modernen Komfortfunktionen optional anzubieten?« Nun, die Antwort ist wenig schmeichelhaft: Weil ich viel zu bequem bin und zu wenig Selbstbeherrschung habe, um davon die Finger zu lassen!

Ja, ich würde sogar ziemlich sicher eine Skill-Leiste verwenden, aufs größere Inventar zurückgreifen und meinen Krempel automatisch sortieren lassen. Und ja, ich weiß, dass ich dies teilweise bekomme, wenn ich ein Gamepad anstöpsel. Aber hey, ein wenig PC-Rollenspieler-Würde habe ich mir dann doch bewahrt.

Die Komfortfunktionen von Diablo 2: Resurrected gibt's nur mit der optionalen Gamepad-Steuerung. Gut so, das schützt mich vor meinem inneren Schweinehund. Die Komfortfunktionen von Diablo 2: Resurrected gibt's nur mit der optionalen Gamepad-Steuerung. Gut so, das schützt mich vor meinem inneren Schweinehund.

Mit Sicherheit wäre Diablo 2: Resurrected mit solchen optionalen Komfortfunktion ein besseres Spiel. Aber für mich eben nicht das bessere Erlebnis! Für mich geht es bei diesem Remaster nämlich viel weniger ums Spielen an sich, als viel mehr um das Wiederentdecken von Gefühlen, Erlebnissen und Gedanken, die ich mit Anfang 20 hatte. Um das gleiche, was bei mir passiert, wenn ich eine Platte von damals auflege oder mir Fotos aus dieser Zeit anschaue. Es ist das erste Mal, das ein Spiel sowas bei mir auslöst. Und das finde ich ziemlich fantastisch.

Anmerkung: Der Publisher von Diablo 2: Resurrected, Activision Blizzard, sieht sich aktuell einer Klage wegen Sexismus und ungleicher Behandlung von weiblichen Mitarbeitern ausgesetzt. Wie wir künftig auch in Tests auf solche Missstände hinweisen werden, erklärt euch Heiko in seiner Kolumne zum Blizzard-Skandal.

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