Bereits vor seinem Release stand Kingdom Come im Zentrum einer hitzigen Debatte. Diversität, möglicher Geschichtsrevisionismus und die Verantwortung von Spielejournalisten wurden inbrünstig diskutiert, und all das entsprang aus dem Anspruch des Rollenspiels, ein »realistisches« Mittelalter zu inszenieren. Ohne Drachen, ohne Zauberer - aber auch ohne »People of Color« und (fast) ohne starke Frauen.
Während manche Spieler darin rechtskonservative Propaganda sahen und dem Lead Designer Daniel Daniel Vávra eine sexistische und rassistische Grundhaltung vorwafen, pochte die Gegenseite auf historische Authentizität. Wer hat nun also Recht? Propagiert Kingdom Come ein verklärtes Geschichtsbild oder stellt es das Mittelalter in der böhmischen Provinz tatsächlich so dar, wie es war?
Das tschechische Gothic:Kingdom Come im GameStar-Test
Als Journalisten können und wollen wir diese Frage natürlich nicht selbst beantworten, deshalb haben wir mit unabhängigen Historikern über Kingdom Come gesprochen: Wie stehen Menschen, die ihr Berufsleben der Erforschung des Mittelalters gewidmet haben, zu den Darstellungen im Spiel?
Das Ergebnis ist ein ausführlicher Report für GameStar Plus. Darin stehen uns vier Historiker Rede und Antwort und bringen einige interessante Details ans Tageslicht. Die wichtigsten Erkenntnisse aus diesen Gesprächen wollen wir allerdings niemandem vorenthalten, daher findet ihr hier alles Wissenswerte kurz und knapp zusammengefasst.
Zum Plus-Report: Alle Details der Historiker-Analyse zu Kingdom Come
- Die Wahrscheinlichkeit, im spätmittelalterlichen Böhmen auf Menschen anderer Ethnien zu treffen, ging laut unserer Experten tatsächlich »gegen Null«. Zumindest in dem Bereich, den Kingdom Come zu seiner Spielwelt auserkoren hat. Das 16 Quadratkilometer große Gebiet ist ländlich geprägt und liegt rund 40 Kilometer von Prag entfernt. Pilger oder Händler aus afrikanischen Königreichen gab es im Spieljahr 1403 zwar durchaus, allerdings folgten sie Straßen und Pilgerwegen, die nicht durch das dargestellte Gebiet in Böhmen verliefen. Diversität fand sich damals vorrangig in großen Städten und nicht in ländlichen Gegenden wie der von Kingdom Come.
- Die Darstellung der Kumanen ist ein zweischneidiges Schwert. Die allgemeine Verteufelung der brandschatzenden Söldner und der Mangel an ungefärbten Meinungen lässt sich auf die lokale Bevölkerung und den von den Kumanen gebeutelten Helden Heinrich schieben, durch dessen Augen wir die Welt wahrnehmen. Wer angegriffen und aus dem Heimatdorf vertrieben wird, entwickelt eben selten eine differenzierte Sicht auf die Angreifer. Tatsächlich bestätigen mittelalterliche Quellen, dass die kumanischen Söldner brutal gegen die Landbevölkerung vorgingen. Allerdings unterschieden sie sich in der Hinsicht nicht von tschechischen, deutschen oder anderen ungarischen Soldaten. Noch dazu neigten mittelalterliche Chronisten zur Übertreibung und Dämonisierung des Gegners; welche Gräueltaten wahr und welche erfunden waren, lässt sich heute kaum noch auseinanderhalten. Da kann man den Entwicklern schwerlich einen Vorwurf machen.
- Trotzdem kann man die Kumanen in Kingdom Come schwerlich als authentisch bezeichnen. Denn sie tragen exotische Steppenrüstungen samt Spitzhelmen und Masken, die im 15. Jahrhundert längst nicht mehr typisch waren. Wie Historiker erklären, trugen die Kumanen damals vermutlich bereits mitteleuropäische Kleidung, weil sie schon seit über 100 Jahren in Ungarn lebten und in dessen Armee dienten. Die Kingdom-Come Entwickler wollten das ehemals nomadische Volk offensichtlich möglichst exotisch und damit bedrohlich aussehen lassen, eine verzerrte Darstellung. Zugleich verbergen sich hinter den Masken größtenteils weiße, mitteleuropäisch anmutende Männer, obwohl die Kumanen aufgrund ihrer Herkunft in Zentralasien auch asiatische Gesichtszüge tragen könnten - was aber nur auf einen einzigen Söldner im Spiel tatsächlich zutrifft.
- Auch die Rollen von Frauen vereinfacht Kingdom Come stark. Zwar lässt sich leicht behaupten, dass Frauen im Mittelalter nur die zweite Geige spielten, man darf aber nicht vergessen, dass die gesellschaftliche Struktur um ein Vielfaches komplexer war, als uns beispielsweise Mittelaltermärkte vorspiegeln. Frauen hatten einen Platz in der Gesellschaft. Sie hatten Rechte und eigene Interessen. Und sie gingen vielfältigen Berufen nach. Selbst wenn es in der Theorie viele Einschränkungen gab, an die sie sich zu halten hatten, sah die Praxis oft anders aus. Frauen durften sogar Waffen tragen - und galten dann als wehrhaft. Nach Aussage unserer Experten verlässt sich Kingdom Come hier zu sehr auf Klischees und Halbwahrheiten. Das Mittelalter böte durchaus Raum für interessante und einflussreiche Frauenfiguren, die mehr können, als erobert oder gerettet zu werden. Dieses Manko könnten die Warhorse Studios allerdings mit dem angekündigten DLC ausbügeln, in dem man eine Frau spielen kann.
- Auch Heinrichs rasanter gesellschaftlicher Aufstieg ließ Augenbrauen emporschnellen: Ist so etwas im Mittelalter wirklich passiert? Kingdom Come will realistisch sein, war aber auch von Anfang an als klassisches Rollenspiel geplant. Deshalb durchläuft Heinrich eine Heldenkarriere, wie wir sie aus anderen Rollenspielen kennen. Unsere Experten sind uneins darüber, wie glaubwürdig das ist. Zwar holten lokale Adelige oft Untertanen in ihren Dienst, die sie für besonders tüchtig und treu hielten. Zugleich kommt Heinrichs »Beförderung« doch sehr schnell und überraschend. Gegen Ende des Spiels rutscht Kingdom Come zudem eher in den Bereich der Ritterepen ab. Einen zentralen Story-Twist halten unsere Experten nämlich für wenig nachvollziehbar. Welchen wir meinen, könnt ihr dem nachfolgenden Spoiler-Kasten entnehmen - Achtung, ihr seid gewarnt!
Warnung: der folgende Absatz enthält Spoiler
Zum Beginn des dritten Story-Aktes entpuppt sich Heinrich als unehelicher Sohn seines Lehnsherren Radzig Kobyla. Diese Offenbarung löst auf den ersten Blick viele Probleme, die Heinrichs rascher Aufstieg verursacht hat. Plötzlich erscheint es glaubwürdig, dass Kobyla so viel Vertrauen in einen Schmiedesohn setzt. Dass Kobyla den unehelichen Sohn bis dahin geheimgehalten hat, können unsere Experten jedoch nicht nachvollziehen. Denn »Bastarde« waren im Mittelalter nicht ungewöhnlich, es gab sie sogar an Königshöfen. Groß verheimlicht wurde da nichts. Erst in späteren Jahrhunderten avancierten uneheliche Adelskinder zum Stigma. Heinrich verkörpert somit die Klischeefigur des heißblütigen Bastards, wie sie in zahlreichen mittelalterlichen Ritterepen vorkommt.
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