Lange Gänge. Nichts weiter als lange Gänge, bei denen uns das Lachen im Halse stecken bleibt. Eigentlich ist The Stanley Parable ein sehr lustiges Spiel. Ein sarkastischer Erzähler mit trockenem Humor kommentiert jede unserer Aktionen, während wir versuchen aus einem bizarrem Bürokomplex zu entkommen. Die Gesetze von Zeit- und Raum gelten hier nicht, denn nach jeder Ecke scheint sich die Architektur zu ändern. Doch es gibt keine Bedrohung in Form eines Verfolgers, von Monstern oder dergleichen. Hier sind nur wir, das Raumkonstrukt und der Erzähler. Also schmunzeln wir am Anfang, stolpern mit einem Kichern durch diese vermeintliche Parodie auf das Büroleben. Allerdings wird mit jedem weiteren Schritt die Erfahrung unheimlicher. Ein schwer zu beschreibendes Gefühl gewinnt an Präsenz, das zwar schon in der ersten Sekunde da war, aber durch den Witz zunächst unauffällig im Hintergrund blieb. Ein Gefühl von Leere, ein Gefühl von Entrückung, ein schwer zu fassender Schwebezustand. Je weiter wir in die unheimlich langen und leeren Gänge des Bürokomplexes vordringen, desto isolierter und verlorener kommen wir uns vor. Dennoch wirkt der Ort nicht fremd auf uns. Es sind schließlich bloß Büros, wie wir sie aus dem Alltag kennen. Irgendwann kommt jedoch der Punkt, an dem wir The Stanley Parable pausieren müssen, weil uns die seltsame Stimmung überwältigt. Das ist bemerkenswert für einen Titel, der eigentlich nicht primär als Horrorspiel konzipiert wurde. Was ist hier also geschehen?
Schwebezustände aus dem Alltag
Das schuldige Phänomenen hat einen Namen: Liminal Spaces. Übersetzt bedeutet der Begriff in etwa "Räume der Liminalität". Hier wird ein Fachwort aus der Ethnologie zweckentfremdet. Eigentlich bezeichnet man damit eine Zwischenphase, in der sich Einzelpersonen oder Gruppen befinden, nachdem sie sich von einer herrschenden Sozialordnung gelöst haben, um in eine andere überzugehen. Ursprünglich ging das mit Initiationsriten einher, die eine solche Zäsur im Leben eines Menschen mit großem Aufwand markieren. In der modernen Gesellschaft der Industrieländer gibt es zwar keine Riten im eigentlichen Wortsinn mehr, aber trotzdem bleiben Feierlichkeiten nach Lebensabschnitten, zum Beispiel Abschlusspartys nach dem Absolvieren der Schule. Ebenso gibt es bestimmte Lebensphasen, die das Gefühl eines Schwebezustands auslösen. Der Klassiker schlechthin dürfte hierbei die Adoleszenz sein, der Übergang zum Erwachsenwerden, bei dem Jugendliche ihre Gefühle und Gedanken für die Zukunft sortieren. Diese Findungsphase findet man auch in später im Leben wieder, etwa beim akademischen Prekariat oder bei einem großen Umzug in ein anderes Land. Diese Abschnitte können von Hoffnung oder Sorge begleitet sein, aber mit ihnen schwingt selbst bei sorgfältiger Planung der nächsten Schritte im Leben eine Ungewissheit mit. Es ist Leerlauf, denn man hat jahrelang eine große Aufgabe erfüllt und wird für einen kurzen Moment fallen gelassen. Selbst wenn zum Beispiel zwischen Schulabschluss und Studium nur ein paar Tage Pause liegen, hängt man etwas in der Luft. Wie eine Fahrradkette, die auf einmal nicht mehr greifen kann, weil in einen leeren Gang geschaltet wurde. Sie dreht sich zwar weiter, hat aber keine konkrete Funktion.
Außerhalb vom eigentlichen Nutzen
Genau an diesem Punkt beginnt der Begriff der Liminal Spaces Sinn zu ergeben, denn angewendet wird er auf Räume, die außerhalb ihrer alltäglichen Anwendung betrachtet werden. Ein Hotelflur bei Nacht, ein stillgelegter Flughafen, ein unbeachteter Spielplatz oder ein geschlossenes Einkaufszentrum - die Beispiele sind unzählig. Wir sind es gewohnt diese Orte zu regulären Betriebszeiten zu besuchen. Dann sind sie mit zahlreichen Passanten und Personal bevölkert. Ohne sie wirken durch die weiten Räume leer und sonderbar fremdartig. Sie kommen uns bekannt vor, und doch vermitteln sie durch die Abwesenheit von Leben das Gefühl eines Traums. Je nach Ausleuchtung kann die Stimmung dann ins subtil bedrohliche kippen: Verschwindet der Gang in der Dunkelheit oder der Hintergrund eines Spielplatzes im Nebel, wirkt das Bild umso losgelöster von der Realität. Was ist dann dort im Verborgenen? Ist dieser Ort überhaupt in unserer Welt verankert, oder befindet er sich in einer anderen Dimension? Es sieht aus wie hier, wirkt aber nicht wie hier.
Liminal Spaces in Horrorspielen und -filmen
Das Gefühl von Liminal Spaces ist zwar schwer zu erklären, aber der Effekt funktioniert bei den meisten Menschen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass viele Filme und Spiele sie bewusst einsetzen. Die Horrorserie Hausen spielt zum Beispiel in einem kargen Plattenbau. Hier sind die Wohnungen sehr dicht aneinander gebaut und Menschen leben auf dem engstem Raum miteinander. Manche der Insassen haben es sich durchaus gemütlich gemacht. Ihre Wohnungen strahlen warmes Licht aus und einige Möbel sind aus Holz. In starkem Kontrast steht die karge, lebensfeindliche Beton-Ästhetik auf den Fluren. Es gibt so gut wie keine persönlichen Gegenstände zu sehen. Kein Spielzeug, keine Schuhe, nicht einmal Müll. Dadurch wirken die Gänge wie realitätsfremde Tunnel zwischen den Wohnungen, angereichert mit viel Schatten. Wer sein Heim verlässt und durch seine Haustür schreitet, begibt sich auf unsicheres Terrain. Durch die Weite und Farblosigkeit der Flure hat man hier das Gefühl, aus der Realität zu fallen. Alles außerhalb der Wohnungen ist in diesem Plattenbau ein Schwellenraum.
Derartige Nutzung von Liminal Spaces findet man sehr oft in Science-Fiction-Horror, wo Designer eine gewisse Narrenfreiheit bei der Gestaltung ihrer Umgebungen haben. Ein Beispiel ist der Klassiker Dead Space: Teilweise sind die Räume so groß und gigantisch, dass man sich klein und unbedeutend vorkommt. Protagonist Isaac betritt Orte, die die vielfache Größe eines Gasometers haben. Man hat das Gefühl einfach von dem Raum geschluckt werden zu können. Während die Entwickler bei Dead Space voll sich voll für dieses Stilmittel entschieden haben, sind Liminal Spaces in Spielen aber ironischerweise manchmal ein Nebenprodukt von geringem Budget. Besonders in Indie-Horrortiteln, wie man sie Zuhauf auf Steam findet, sind Räume leer, weil die Ressourcen für eine volle Ausgestaltung gefehlt hat. Clevere Entwickler machen aus dieser Schwäche eine Stärke, wie zum Beispiel NaissanceE. In diesem unheimlichen Spiel muss man einen Ausweg aus einem surrealen Megakomplex finden. Die Grafik ist minimalistisch. Es gibt kaum Farben und wenig Texturen; aber die alptraumartige Architektur und ihrer kaum vorstellbaren Größe geben dem Spiel in Kombination mit der effektiven Beleuchtung eine einzigartige Atmosphäre. NaissanceE erzeugt allein mit seiner Raumgestaltung Unwohlsein. Ähnlich wie bei Stanley Parable begegnen uns Liminal Spaces auch außerhalb von Horrorspielen. Mirrors Edge lässt uns zum Beispiel in einem Kapitel durch eine gigantische Kanalisationsanlage laufen. Sie ist von Japans Shutoken Gaikaku H?suiro inspiriert, einer unterirdischen Entwässerungsanlage unterhalb von Tokyo. Sie hat die größte Infrastruktur ihrer Art, mit riesigen Wasserspeichern und kilometerlangen Tunneln. Fotos davon muten an, als seien sie direkt aus NaissanceE oder Mirrors Edge entnommen.
Die Corona-Pandemie als Schwebezustand
Im Jahre 2020 haben Liminal Spaces an Aufmerksamkeit gewonnen. Es gibt einen Reddit-Thread, in dem entsprechende Fotos oder Screenshots aus Spielen gesammelt werden. Einige Youtuber haben sogar ausführliche Essays zu dem Thema produziert. Durch die Corona-Pandemie und die damit einhergehende Selbstisolation fühlt sich 2020 schließlich ebenso an wie eine Art Schwellenzustand. Kein Wunder, dass Liminal Spaces viele Menschen berühren. Es beschreibt ihren Gemütszustand. Aber auch schon Jahre zuvor hat das Phänomenen viele Leute zu unheimlichen Theorien inspiriert. Manche sagen, sie kommen uns bekannt vor, weil wir diese Orte in unseren Träumen besuchen. Andere fühlen sich sogar nostalgisch, weil sie Fotos von Liminal Spaces mit früheren Erlebnissen assoziieren.
Eine der unheimlichsten Theorien ist aber eine Creepypasta namens "Back Rooms": Sie beschreibt eine unendliche Aneinanderreihung von leeren Büroräumen. Diese sind durchflutet von gelblichen, fluoreszierendem Deckenlampen. Tapeten und Böden sind ebenso gelb. Es wirkt so, als seien die Angestellten einer großen Firma mitsamt Einrichtung ausgezogen. Doch egal wohin man geht: Es gibt keinen Ausweg. Die leeren Räume wiederholen sich, immer und immer wieder. Die Creepypasta beschreibt, dass dieser Ort ein Zwischenraum der Realität ist. Man kann hier jederzeit völlig zufällig hinein gezogen werden, wie bei einem Glitch in einem Spiel, wo man durch einen Fehler durch den Level fällt. Aber es gibt keinen Weg zurück. Das erklärt vielleicht auch, weshalb uns The Stanley Parable so unheimlich vorkommt, obwohl es gar kein richtiges Horrorspiel ist. Die Nähe zu den "Back Rooms" ist durchaus da. Ein schrecklich üblich aussehender Ort in einem Raum- und Zeitgefüge außerhalb der natürlichen Ordnung, aus der es scheinbar keine Fluchtmöglichkeit gibt. Die Vorstellung hier gefangen zu sein ist möglicherweise schlimmer als jedes Monster oder jeder Geist.
Information zu Hausen: Am 29. Oktober startet die neue Horror-Serie Hausen auf Sky. Zum Start der Serie könnt ihr aber bereits jetzt schon die erste Folge für kurze Zeit ansehen. Auf der Seite Hausen.TV gibt es Folge 1 bis Donnerstag kostenlos zu sehen.
Zum Start der Serie streamen wir außerdem die erste Folge Live zusammen mit den Schauspielern der Serie auf Twitch und Youtube. In der "Watch Party from Home powered by Sky" könnt ihr am 29. Oktober, ab 20 Uhr Regisseur Thomas Stuber und seinen Schauspieler dabei zuhören, was am Set von Hausen so alles passiert ist und erfahrt interessante Insider-Informationen von Hausen.
Hausen wird ab Donnerstag, 29. Oktober täglich in Doppelfolgen auf Sky Atlantic ausgestrahlt werden. Zudem können die Episoden über Sky Ticket, Sky Go und über Sky Q gestreamt werden.