Die Sonne steht bereits tief am Horizont. In der Ferne erblicken wir eine riesige Rauchsäule, die uns den Weg weist. Wir rennen als Wolf durch das hohe Gras einer weitläufigen, pastellfarbenen Landschaft. Die Schatten werden länger, und als die Dämmerung endgültig einsetzt, erkennen wir mit ehrfürchtigem Staunen, dass unser Sprint durch das Gras Tausende von Glühwürmchen aufschreckt, die jetzt wie Funken unsere Reise zauberhaft begleiten.
Es sind Momente wie diese, in denen wir alles um uns herum vergessen und völlig eintauchen in die idyllische Schönheit von Lost Ember. Das Indiespiel aus Hamburg hat Ende 2016 mit einer sehr erfolgreichen Crowdfunding-Kampagne (326.000 Euro) auf Kickstarter für Furore gesorgt und ist nun nach einigen Verschiebungen erschienen.
Zini und der Wolf
Erzählt wird in Lost Ember die Geschichte des fiktiven Volks der Yanrana, komplett in Deutsch und Englisch vertont. Wir finden uns zu Spielbeginn aus unbekannten Gründen im Körper eines Wolfs wieder. Ein rotglühendes Astralwesen (das aussieht wie Zini das Wuslon, die älteren Leser erinnern sich bestimmt an »Spaß am Dienstag«) spricht uns an. Es sucht nach dem Weg in die »Stadt des Lichts«.
Im Glauben der Yanrana ist dies der Ort, an den die Seelen der Verstorben gelangen. Doch der Weg dahin ist durch eine magische Kuppel versperrt, die über der Landschaft liegt. Die Leuchtkugel bittet um unsere Hilfe, diese Schranke zu durchbrechen. Wir beschließen unseren neu gefundenen Freund zu begleiten und machen uns als Duo auf eine spirituelle Reise, um das Geheimnis der Barriere und den Grund für unsere Tierform zu ergründen.
Klingt esoterisch, doch Lost Ember ist ein handfestes Action-Adventure im Stil von Journey oder Fe. Als Wolf können wir nicht nur rennen und die Landschaft erkunden, sondern besitzen eine ganz besondere Gabe: Auf Knopfdruck schlüpfen wir in jedes andere Tier, das uns auf unserer Reise in der Welt von Lost Ember begegnet.
Auf diese Weise lassen sich auch für den Wolf unüberwindbare Abgründe und Hindernisse umgehen. Im Körper eines Vogels fliegen wir unbeschwert über große Schluchten, klettern als Bergziege gekonnt an steilen Felswänden empor, oder tauchen ohne Atemnot als Forelle unter Wasser durch unterirdische Höhlensysteme. Jede der insgesamt 12 Tierarten im Spiel steuert sich unterschiedlich und ist liebevoll animiert.
Zu Lande, zu Wasser und in der Luft
Aus spielerischer Sicht bleiben wir allerdings trotz der (Verzeihung) »tierisch« guten Idee etwas enttäuscht zurück. Für die Story hinter der rund fünfstündigen Kampagne spielen die Tierverwandlungen keine große Rolle. Das Spiel verzichtet auf jegliche Form von Rätseln, Kämpfe oder sonstige spielmechanische Herausforderungen, in denen diese Fähigkeiten kreativer zum Einsatz kommen könnten.
In der Regel dienen die tierischen Talente lediglich zur Überwindung einzelner Hindernisse auf dem Weg zum nächsten Handlungsort. Auf diese Weise reduzieren sich Verwandlungen fast zum reinen Selbstzweck, es stellt sich nur selten ein Erfolgsgefühl ein.
Die weitläufige Landschaft mit ihren offenen Arealen lädt zum Erkunden ein. Wer nicht immer direkt zur nächsten Rauchsäule rennt, um die Story voranzutreiben, findet geheime Gebiete und versteckte Sammelitems in Form von diversen Pilzsorten und Relikte der untergegangenen Yanrana-Zivilisation.
Spätestens hier hofften wir im Test, dass die Fähigkeiten der Tiere in diesen Nebenaufgaben auf kreative Weise von Nutzen sein könnten. Doch die Umwege lohnen sich nur für Sammler und bieten kaum spielerischen oder erzählerischen Mehrwert. Sie fügen der Atmosphäre nichts hinzu, und auch der Weg ist in der Regel nicht besonders reizvoll oder fordernd.
Gut gefallen hat uns dagegen, dass nicht jedes Tier wirklich »nützliche« Eigenschaften hat, die uns im klassischen Sinne weiterhelfen. Wer hat nicht schon immer davon geträumt, mal für einige Minuten als verfilztes Faultier im Baum abzuhängen oder sich als Elefant mit einer Ladung Wasser im Rüssel selbst den Rücken zu befeuchten? Von solchen verspielten kleinen Ideen und witzigen Entdeckungen hätten wir uns mehr gewünscht, um noch tiefer in die wunderschöne Welt von Lost Ember eintauchen zu können.
Einfühlsame Geschichte ohne Kitsch
So harmonisch die weitläufige Naturlandschaft und die friedliebende Tierwelt wirkt, der Schein trügt: Denn im Kern geht es in Lost Ember um die großen Themen der Menschheit: Verlust, Trauer, Familie, Loyalität und die ewige Suche nach der Sinnhaftigkeit unseres Handelns. Was bedeutet es, ein »guter« Mensch zu sein? Was passiert mir uns nach dem Tod und was macht das mit den Hinterbliebenen?
In Form von Erinnerungssequenzen erleben wir die wichtigsten Schlüsselmomente zweier eng miteinander verwobenen Lebenslinien. Diese werden teils in kurzen Animationen gezeigt oder erscheinen uns als leuchtende »3D-Standbilder« in der Szenerie der Spielwelt. Zum Beispiel zeigt uns so ein Hologramm, wie zwei Streitende den Tempel um uns herum zur Ruine reduzieren. Unsere Begleitung kommentiert diese Situationen wie ein Erzähler aus dem Off und ergänzt sie mit Informationen.
Die Geschichte nimmt einige interessante und überraschende Wendungen und ist zusammen mit der gelungenen Präsentation und der Hologramm-Sprecher-Erzählform das Highlight von Lost Ember. Menschen mit einer Vorliebe für Storyspiele können wir diese »Tier-Walking-Sim« wärmstens empfehlen. Auf die ein oder andere Träne der Rührung sollte man sich beim emotionalen Finale gefasst machen. Wer dagegen spielerische Innovationen und Herausforderungen durch den Wechsel der Tierarten erwartet, wird mit Lost Ember nicht glücklich werden.
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