Ich hasse Nier Replicant, aber spielt es bitte unbedingt

Meinung: Nier Replicant war für Dimi eine der zähsten Spielerfahrungen 2021. Und trotzdem denkt er Wochen später immer noch an nichts anderes.

Mich hat ewig - wirklich ewig - kein Spiel mehr so rasend gemacht, zur Weissglut (hehe) gebracht, vor Wut schäumen lassen wie Nier Replicant. Mein letzter Playthrough ist jetzt drei Wochen her und trotzdem kriege ich schon beim Tippen dieser Zeilen Puls wie ein wütendes Murmeltier.

Hinter mir liegen endlose Stunden des monotonen Grinds, Kämpfe gegen immergleiche Gegner, ein Questdesign wie Fließbandarbeit im Stanzwerk - und für alle fünf Enden musste ich mir große Teile von Nier Replicant wieder und wieder und wieder antun, jede einzelne Waffe sammeln, ich falle ins Leid.

Die 40 Spielstunden fühlten sich an wie 400 Stunden Steuererklärung, wie Bundesjugendspiele gestreckt auf drei Wochen, wie ganztägige Familientreffen gekettet an den Tisch mit diesem politisch problematischen Onkel, der beim Frühstück schon nach Schnaps muffelt. Und falls ihr jetzt denkt »Dimi, wir haben's verstanden«, dann schenkt unserer Testerin Elena eine Tüte Mitgefühl, denn die Arme musste sich tagelang mein Gemaule anhören, wie sehr ich Nier Replicant hasse - und mein wehklagendes Fragen, ob es denn bald besser wird.

Stellt sich raus: Wird es nicht. Ich habe Nier Replicant vor Wochen zu den Akten gelegt, 100 Prozent aller Quests gestemmt, jeden Fisch gefangen, jede Pflanze gezüchtet, jedes Ende freigeschaltet und bin felsenfest überzeugt, dass ich dieses Spiel nur dann wieder anfasse, wenn Disney im Gegenzug die Star-Wars-Sequels zurücknimmt. Und trotzdem geht mir dieses verdammte Nier Replicant nicht mehr aus dem Kopf.

Erwartet in diesem Artikel hier keine Pro-Kontra-Auflistung, keine sachdienliche Rezension - dafür gibt's unseren GameStar-Test zu Nier Replicant. Ich will euch nicht detailliert erzählen, was Nier für ein Spiel ist, sondern was es mit mir gemacht hat. Und warum ich diese schreckliche Spielerfahrung gebraucht habe. Ganz persönlich. Ganz subjektiv.

Wenn man nicht verzeihen will

»Moment mal«, werft ihr jetzt zurecht ein, »im GameStar-Test steht doch, dass Nier ein gutes Spiel mit flotten Kämpfen ist, dem man bloß gewisse Macken nachsehen muss.« Und das stimmt, ich unterschreibe jede Stärke und Schwäche, die Elena im Test rausarbeitet. Jonas' Testvideo unterstreicht das auch sehr schön:

Action-Geheimtipp ist jetzt besser als das Original - Nier Replicant im Test Video starten 12:33 Action-Geheimtipp ist jetzt besser als das Original - Nier Replicant im Test

Nier Replicant ist eine echt launige Erfahrung, falls ihr die Leerläufe und Design-Patzer verzeihen könnt. Kann ich aber nicht. Vor allem nicht jetzt.

Ich habe gerade erst drei JRPGs (Trails in the Sky) hintereinander durchgekloppt, die mir jeweils viel Grind abverlangt haben - aber der Hauptgrund ist eigentlich der: Nach anderthalb Jahren Pandemie liegt meine Frusttoleranz für Stumpfsinn, Grind und Gleichförmigkeit bei Null. Wenn ich durch meine Tagebucheinträge scrolle, sehen 80 Prozent meiner Feierabende so aus:

  • Netflix geguckt, bisschen gezockt.
  • Netflix geguckt, bisschen länger gezockt.
  • Mit Mutti telefoniert, danach Netflix.
  • Star Wars: The High Republic gelesen (immerhin besser als Episode 9).
  • Heute Netflix, danach zocken.
  • Mit Maurice Sprachnachrichten hin- und hergeschickt, warum Falcon and the Winter Soldier Potenzial liegen lässt - danach Netflix.
  • Heute mal lange Battlefront mit Kollegen gezockt, danach um denselben Häuserblock spaziert, um den ich seit 16 Monaten täglich spaziere, damit das Pandemie-Bäuchlein zumindest so klein bleibt, dass ich nicht per Filzstift eine Weltkugel drauf einzeichnen kann.
  • Heute gelesen, danach Amazon Prime.

Ich bin an einem Punkt angelangt, den ich nicht mal Feinden wünsche: Ich habe Netflix leergeguckt. Oh, und ich gehe hier ganz bewusst nicht auf die wirklich schlimmen Belastungen, Verluste und Probleme ein, die Covid uns allen beschert hat, weil ich a) im Vergleich zu anderen viel, viel Glück hatte und b) den Grundton dieses Artikels eher erbaulich und leichtherzig halten will.

Deshalb lasst uns hier abkürzen: Diese ätzende Pandemie belastet mein Leben, euer Leben, unser aller Leben. Und deshalb brauche ich in meiner Freizeit Höhepunkte, die in erster Linie gut tun. Nicht noch mehr monotones Abarbeiten der immer gleichen Aktivitäten.

»Du hast Nier nur nicht verstanden«

Nier Replicant besteht fast komplett aus Backtracking. Die ersten Kampagnenherausforderungen im Spiel lauten »Lauf zu Ort X, werde dort abgewiesen, laufe zurück in dein Dorf, lauf zu Stadt Y, erreiche dort wieder nichts, lauf zurück ins Dorf, lauf auf den Schrottplatz, sammle im Schrottplatz Gegenstände und, und, und.« Für eine Quest müsst ihr Pflanzen züchten und nach jedem Einpflanzen zwei echte Tage warten, bis ihr ernten könnt. Und das mehrmals. Diese Quest dauert buchstäblich eine Woche, sofern ihr nicht die Windows-Systemuhr manipuliert.

Das Pflanzenspiel in Nier Replicant nimmt eure Zeit und wirft sie zusammengeknüllt aus dem Fenster. Das Pflanzenspiel in Nier Replicant nimmt eure Zeit und wirft sie zusammengeknüllt aus dem Fenster.

Der Fischfang ist ein derart langwierig stumpfsinniges Geschicklichkeitsspiel, dass mir der linke Daumen den ganzen Abend weh tat, weil ich den Gamepad-Stick so lange in dieselbe Richtung ziehen musste. Und wer Niers Waffen aufrüsten will, rennt wieder und wieder und wieder durch die immer gleichen Fabrikhallen auf der Suche nach Titanlegierungen - ich kenne alle Comic-Verkaufszahlen seit den 2000ern auswendig, weil ich während dieser Latscherei gefühlt 200 Branchenpodcasts gehört habe.

Und wisst ihr, was Fans von Death Stranding, Dark Souls und Nier Replicant gemeinsam haben? Sie reagieren auf solche Kritik mit einem achselzuckenden »Du hast das Spiel halt nicht verstanden.« Nier Replicant spielt bewusst mit Stumpfsinn, es nimmt klassische Anime-Tropes des mutigen Helden, der die Welt rettet, aufs Korn, macht sich über JRPG-Formelhaftigkeiten lustig. Verstehe ich. Aber ich hätte es auch nach drei dummen Quests verstanden statt nach 30. Und ich muss sie ja doch alle spielen, weil sich hinter jeder fünften Nebenmission eine spannende Geschichte verbirgt.

Also eigentlich ein klarer Fall: Nier Replicant ist durchgefallen. Oder?

Warum soll ich das spielen?

Ich könnte jetzt die große Pointe bringen, dass die Story von Nier Replicant fantastisch ist. Ist sie nämlich. Nier Replicant erzählt eine mutige, mitreißende und tragische Geschichte, die erst mit mehreren Durchläufen ihre volle Tragweite entfaltet, meine Erfolge immer wieder in neues Licht rückt, ein flaues Gefühl im Magen hinterlässt, mir gleichermaßen Freuden- und Trauertränchen abringt. Großartig. Aber gar nicht mein Punkt.

Kainé und Emil sind derart fantastische Figuren, dass ich sie nie vergessen werde. Kainé und Emil sind derart fantastische Figuren, dass ich sie nie vergessen werde.

Ich habe mich lange gefragt, wieso Nier Replicant in mir so warme Gefühle hinterlässt, obwohl ich die Spielerfahrung so schrecklich fand. Warum ich beim Arbeiten den Soundtrack hoch- und runterhöre, beim Einschlafen ständig daran denke. Und ich weiß es jetzt: Weil Nier Replicant mich inspiriert. Oder genauer: Weil Kainé, Emil und Nier - die Hauptfiguren des Spiels - mich inspirieren.

Gut, da kann man jetzt sagen: Wer sich von Videospielfiguren inspirieren lässt, hätte besser die Finger von etikettlosem Alkohol gelassen, aber a) war der günstig und b) schwimmen Kainé, Emil und Nier wirklich in so einer trostlosen Suppe, dass ich darin einfach Trost finde. In der Welt von Nier Replicant gibt es keine Hoffnung, keine Happy Ends, hinter jedem Erfolg steckt doch nur wieder eine Tragödie.

Kein Spiel, das ich mag, aber eines, das mir hilft

Meine Charaktere sammeln so ziemlich jedes innere wie äußere Problem, mit dem man als Mensch kämpfen kann. Sie werden von der Gesellschaft ausgegrenzt, fühlen sich in ihren eigenen Körpern unwohl, fürchten um die Zukunft, sind einsam, bedroht, chancenlos. Doch selbst in Momenten der absoluten Hoffnungslosigkeit halten die Drei zusammen, stehen füreinander ein, lachen am Lagerfeuer und geben einen Ihr-wisst-schon drauf, was die Welt dazu zu sagen hat.

So viele Gaming-Geschichten drehen sich darum, dass alles gut werden kann, wenn ich nur Problem X löse. Wenn ich die Welt repariere. Nier Replicant zieht dieser narrativen Verklärung die Hosen runter. Hier gibt's nichts zu retten, alles geht den Bach runter - und trotzdem können Kainé und Co. darin ein bisschen Glück finden.

Die Welt von Nier Replicant wird an Trostlosigkeit wahrscheinlich nur von Nier Automata überboten. Die Welt von Nier Replicant wird an Trostlosigkeit wahrscheinlich nur von Nier Automata überboten.

Gerade weil Nier Replicant über weite Strecken so einen ätzend öden Spielfluss hat, so eine trostlose Welt, so stumpfe Quests, gerade deshalb kaufe ich Nier, Kainé und Emil ab, wie wertvoll ihr Optimismus in diesem Meer der Monotonie ist. Besonders das neue, fünfte Ende des Remasters zeigt den Ungewissheiten der Zukunft einen riesigen Mittelfinger. Es sucht das Glück in der Gegenwart, den Liebsten oder auch nur in mir selbst.

Es sagt Halt, Stopp zu diesen blöden Zweifeln, Grübeleien und Zukunftssorgen, die ich seit anderthalb Jahren allzu gut kenne, ohne jetzt wie ein Möchtegern-Yolo-Appell eines Millenials rüberzukommen. Es akzeptiert, dass das Leben über lange Strecken hart, unfair und trostlos sein kann. Und statt sich den ganzen Tag darüber aufzuregen, dass sich das nicht ändern lässt, finden Nier, Kainé und Emil selbst im größten Misthaufen einen Grund zur Freude. Und irgendwie kann ich nicht anders, als mich mitzufreuen.

Diese Erfahrung habe ich gebraucht, ohne es zu wissen. Ihr ja vielleicht auch?

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