Es gibt vielleicht kein anderes Spiel wie dieses Planescape: Torment. Ein Titel, der seit seinem Erscheinen im Jahr 1999 immer und immer wieder in Diskussionen um das beste Spiel aller Zeiten einen der obersten Plätze einnimmt, den aber kaum jemand kennt. Ein Rollenspiel-Exot, der auch heute noch eine Ausnahme darstellt: Fremdartig, komplex und mit einer laserscharfen Konzentration auf echtes Rollenspiel und eine intelligente, brillant orchestrierte Geschichte.
Sich an Torment zu versuchen, ist heute wie damals nicht ganz leicht. Als Unsterblicher bereist man die eigenartige Zwischenwelt Sigil, eine Art Knotenpunkt der viele verschiedene Welten miteinander über Portale verbindet. Ein Ort, der wirkt wie irgendwo zwischen Leben und Tod. Die Welt entspricht keinem der gängigen Fantasy-Universen. Es gibt keine Orks, keine Elfen, bestenfalls sowas wie Zauberer und Schurken. An allen Ecken und Enden vermischt Torment Einflüsse des Steampunk mit klassischer Dark-Fantasy, mit philosophischen Fragen über ein unendliches Leben und einer Prise Science-Fiction. Wie unsere Spielfigur fühlt man sich zunächst als Fremdkörper, muss desorientiert herumwandern und lernen, diesen eigenartigen Ort zu verstehen.
Hat man diesen Einstieg erst mal überwunden, entfaltet sich nach und nach ein immer reichhaltigeres Spieluniversum. Wenn wir in heutigen Zeiten über die vielen interessanten Gruppierungen und Nebenaufgaben in Spielen wie Dragon Age sprechen, muss man den Vergleich mit Torment geradezu mutwillig ausblenden. Das inzwischen bald 15 Jahre alte Spiel überragt fast alle nachfolgenden Spiele in dieser Hinsicht um Längen. In seiner Welt trifft man auf die »Dustmen«, die Untote wie Sklaven halten und mit den Lebenden morbide Verträge über die Verwertung ihrer Körper nach dem Tode abschließen. Man lernt den Magier Ignus kennen, dessen Körper in einer endlosen Verbindung in einer Feuerdimension über Jahre in endlosem Schmerz gefangen war.
Man durchstreift arglos ein Portal in eine andere Dimension, nur um festzustellen, dass man in einem verfallenen Haus ohne Türen und Fenster endet. Die kurz darauf erscheinende Magiertruppe ist aber gerne bereit, uns aus diesem nicht ganz zufälligen Schlamassel zu helfen - gegen eine kleine Gebühr. Das Kronjuwel von Torment ist jedoch seine übergreifende Haupthandlung, in der unser namenloser Held seine wahre Identität ergründet. Die Geschichte rund um die Abgründe eines unsterblichen Lebens wird nicht zu Unrecht als die vielleicht beste Story gehandelt, die je in einem Spiel erzählt wurde. Auch die Spielmechanik ist voll von Eigenarten, die sich schon damals kaum ein Spiel zu trauen wagte.
Es gibt Ausrüstungsgegenstände, die sich fest mit der Spielfigur verbinden und nie wieder entfernt werden können. Das Steigern von Charakterwerten hat nicht nur einen direkten Einfluss auf Dialogoptionen, es verändert tatsächlich den Charakter unserer Spielfigur und somit die Art und Weise, wie sie mit anderen Lebewesen umgeht. Quests und Geschichten nehmen den Großteil der Spielzeit ein. Wer kein Interesse am Kämpfen hat, kann viele Aufgaben allein in Dialogen lösen und Konfrontationen geschickt umgehen. Torment kümmert sich nicht um Tutorials und Konventionen. Es dauert Stunden, bis man wirklich im Spiel angekommen ist.
Dass Torment so gut werden konnte, verdankt es vermutlich einer Reihe von glücklichen Konstellationen. Beim Entwicklungsstudio Black Isle kam just zum Start der Entwicklung eine seltene Mischung brillanter Entwickler zusammen, die sich genau zum richtigen Zeitpunkt in ihren Karrieren trafen. Chris Avellone, der sich zuvor seine Sporen mit Fallout 2 verdient hatte, arbeitete über Monate das Konzept für Torment aus - sein erstes, großes, eigenes Projekt. Colin McComb hatte zuvor jahrelang bei den Dungeons & Dragons-Erfindern von TSR gearbeitet. Seinen Wechsel ins Team von Torment beschreibt er als »die Kulmination all meiner vorigen Arbeit als 'Planescape'-Autor«. Aus Deutschland stieß Guido Henkel hinzu, der sich in Deutschland zuvor mit den drei Das Schwarze Auge-Rollenspielen der Nordland-Trilogie einen Platz in der Spielegeschichte gesichert hatte.
Publisher Interplay ließ dem Team eine ungewohnt lange Leine. »Es gab den Wunsch, etwas radikal anderes zu machen«, beschreibt Guido Henkel rückblickend die Situation, »wir hatten von Interplay den Support, inhaltlich wirklich zu machen, was wir wollten. Das gab Chris und Colin einen Freibrief, wirklich voll einzusteigen und mit den bizarrsten Ideen zu arbeiten.« Eine solche Situation ist für heutige Großproduktionen fast unvorstellbar. »Es war eine andere Zeit in der Spielentwicklung damals«, erinnert sich Colin McComb, der Co-Designer des Spiels, »viele der Firmen, auch unser Publisher Interplay, waren damals noch in privater Hand, und alles, was es brauchte, war das Vertrauen der Leute an der Spitze. Heute bestimmen große Aktiengesellschaften den Markt, in dem die Interessen der Investoren den Ton angeben.« Die einzigen Firmen, die heutzutage vielleicht noch ein solches Wagnis eingehen könnten, wären unabhängige Mega-Entwickler wie Valve.
Doch solch ein Spiel zu machen, war auch Ende der 1990er-Jahre keine Kleinigkeit. »Das Spiel war ein enormes Risiko für Interplay damals. Da stand eine Menge Geld auf dem Spiel«, so Guido Henkel. Planescape: Torment wurde für seinen Wagemut nicht belohnt. Ähnlich wie Deus Ex kurze Zeit später, prasselten die Top-Wertungen nur so auf Torment"herab, aber die großen Verkäufe blieben aus. Das Spiel schaffte es zu Anfang gerade so, sein Produktionsbudget wieder einzuspielen.
Wie viele der Spiele, die uns heute als die besten ihrer Art bekannt sind, galt auch Planescape: Torment bei Erscheinen als »buggy« und unvollkommen. Erst spätere Patches behoben die meisten dieser Fehler. Viele davon waren das Resultat der ungezügelten Ambitionen im Team. Selbst Monate nach Produktionsbeginn wurden auf Wunsch der Designer immer neue Features zu der zugrundeliegenden Infinity Engine hinzugefügt, um deren Vision einer möglichst interaktiven Welt zu realisieren.
Guido Henkel, von Interplay eigentlich als reiner Projektmanager eingestellt, fühlte sich wie Dirty Harry bei einem Schreibtisch-Job. Auf der Suche nach einer Chance, sich kreativ einzubringen, begann er, die Spiel-Engine umzuprogrammieren. »Ich wollte unbedingt, dass sich unser Spiel von 'Baldur's Gate' absetzen kann, von dem wir die Engine geerbt hatten«, so Henkel. Um das ins Spiel eingebettete Handbuch umsetzen zu können, entwickelte er sogar kurzerhand einen eigenen HTML-Browser für Torment. Im Autorenteam kämpfte man derweil darum, eine so interessante und bewegende Geschichte wie möglich zu erzählen, die sich an die Entwicklung des Spielcharakters anpasst. »Bei uns ging es nicht um die Rettung der Welt«, sagt Colin McComb, »es ging darum, genau ein Leben zu retten: deines.« Das, so glaubt er, macht bis heute die Faszination von Torment aus.
Nur angemeldete Benutzer können kommentieren und bewerten.
Dein Kommentar wurde nicht gespeichert. Dies kann folgende Ursachen haben:
1. Der Kommentar ist länger als 4000 Zeichen.
2. Du hast versucht, einen Kommentar innerhalb der 10-Sekunden-Schreibsperre zu senden.
3. Dein Kommentar wurde als Spam identifiziert. Bitte beachte unsere Richtlinien zum Erstellen von Kommentaren.
4. Du verfügst nicht über die nötigen Schreibrechte bzw. wurdest gebannt.
Bei Fragen oder Problemen nutze bitte das Kontakt-Formular.
Nur angemeldete Benutzer können kommentieren und bewerten.
Nur angemeldete Plus-Mitglieder können Plus-Inhalte kommentieren und bewerten.