Als Custer's Revenge anno 1982 für den Atari 2600 erscheint, gibt es einen öffentlichen Aufschrei: Mit dem nackten US-General George Armstrong Custer, dessen historischer Namenspatron 1876 bei der Schlacht am Little Bighorn von Indianern getötet wurde, weichen wir Pfeilen und Kakteen aus und lavieren uns so ans andere Ende einer Ebene, um dort in kruder Pixelgrafik eine Indianerin zu vergewaltigen, die an einen Marterpfahl gefesselt ist.
35 Jahre später veröffentlicht der New Yorker Kunstprofessor Robert Yang sein Indie-Spiel The Tearoom, in dem wir auf einer versifften Kneipentoilette in den USA der 60er-Jahre Oralsex mit Unbekannten haben, deren Geschlechtsteile wie fleischfarbene Pistolen aussehen. Obwohl ein öffentlicher Aufschrei diesmal - auch mangels Aufmerksamkeit - ausbleibt, bricht Yangs Spiel ebenso wie Custer's Revenge ein Tabu: Sowas kann man doch nicht in einem Spiel darstellen.
Oder doch? Wo liegt denn nun die Grenze zwischen Provokation und Geschmacklosigkeit, zwischen Tabubruch und Effekthascherei, Kunst und Kriegserklärung? Es geht ja nicht nur um Spiele mit sexuell expliziten Inhalten: Pädophilie in Fran Bow, Kannibalismus in Fallout und DayZ, Amok in Modern Warfare 2 und Hatred. Viele Spiele überschreiten Grenzen. Dürfen die das? Oder provokanter gefragt: Müssen sie es sogar?
Rassismus in Spielen - Wie Deus Ex und Mafia 3 die Rassentrennung umsetzen
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Die Autorin
Als das Spielmenü in Pony Island plötzlich nicht mehr so funktionierte, wie es funktionieren sollte, saß Nora bestimmt geschlagene zehn Minuten lang sprachlos vor dem Bildschirm. Von diesem formalen Eingriff in Wohlbekanntes und Vertrautes war sie aus unerfindlichen Gründen schockierter als von sämtlichen Blutfontänen in Hatred. Dann hat sie sich wieder berappelt und auf die Suche nach Tabubrüchen in Spielen gemacht. Das Ergebnis? Lesen Sie selbst.
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Alles Tabu oder was?
Tabus sind normative Werte, die innerhalb einer Gesellschaft bestimmte Verhaltensweisen verbieten, ohne unbedingt in einem Regelwerk festgeschrieben sein zu müssen. Sie bilden eine stillschweigende Übereinkunft, was sich »gehört« und was nicht. Der Gegensatz zu formell festgeschriebenen Regeln wie Gesetzen besteht genau darin: Tabus gelten, ohne dass man groß darüber redet. Mehr noch: Sie gelten, eben weil man nicht darüber redet.
Natürlich können sich diese gesellschaftlichen Tabus in Gesetzestexten widerspiegeln, viele davon - etwa Pädophilie - beeinflussen maßgeblich die faktische Gesetzgebung. Aber ein Tabu ist nicht auf eine rechtliche Grundlage angewiesen, um allgemeingültig zu sein. Beispielsweise gibt es in Deutschland kein konkretes Gesetz, dass das Essen von Menschen verbietet - dennoch dürfte wohl kaum jemand argumentieren, Kannibalismus sei akzeptabel. Vielmehr nisten Tabus als das »Ungehörige«, das »Unaussprechliche« im kollektiven Unterbewusstsein einer Gesellschaft.
Mehr noch: Ein Tabu kann auch unabhängig von oder sogar im Kontrast zu rechtlichen Regelwerken stehen. Aktuelles Beispiel: Trotz des neuerdings geltenden Rechts der Ehe für alle gilt Homosexualität in Teilen der Gesellschaft nach wie vor als Tabuthema. Man spricht nicht darüber. Ein Tabu geht über das bloß Verbotene hinaus. Bestimmte Handlungen können durchaus - rein rechtlich - erlaubt sein und dennoch tabuisiert.
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