Ausgerechnet Valhalla ist mein liebstes Assassin's Creed

Assassin's Creed Valhalla wurde im GameStar-Test teils hart in die Mangel genommen. Unsere Autorin Nele stimmt vielen Kritikpunkten zu - und findet es trotzdem besser als sämtliche Serienteile.

Nele schwärmt auch heute von Assassins Creed Valhalla. Nele schwärmt auch heute von Assassin's Creed Valhalla.

Ja, ich war und bin auch eine »von denen«, die ständig an Ubisoft, Assassin’s Creed Valhalla und der ubisoftschen Formelhaftigkeit herummeckern. Ihr wollt Beweise? Ich stänkere auf unserer Schwesterseite GamePro.de wegen der Siedlung, rege mich über allerlei Sammelkram sowie andere Zeitfresser im Spiel auf, bescheinige den »Meisterherausforderungen« vollkommene Sinnfreiheit und sogar Kinder waren vor meinem unheiligen Wikinger-Zorn nicht sicher, denn ich hasse, hasse, hasse (!) auch heute noch den Fischerjungen.

Trotzdem stelle ich mich jetzt hier mitten in den Fahrtwind und behaupte: Valhalla ist das beste Assassin's Creed überhaupt – zumindest für mich. Klingt widersprüchlich? Mitnichten. Für diejenigen, die sich all meine GamePro-Meinungsartikel zum nordischen Evergreen durchgelesen haben, schimmert es vielleicht schon ein wenig durch, denn trotz all meiner Kritik und entgegen jeder Vernunft, liebe, liebe, liebe (!) ich dieses olle Spiel trotz aller Probleme. Wie kann das sein?

Dies ist eine Spoiler-Warnung. Diese Kolumne enthält leichte Spoiler zu Assassin's Creed Valhalla, inklusive Details zur Haupstory und Romanzen. Wenn ihr das Spiel selbst erleben möchtet, dann speichert euch den Artikel für einen späteren Zeitpunkt ab. Lest ab hier wirklich nur weiter, wenn ihr bereits gespielt habt oder garantiert nicht selbst spielen möchtet. Außerdem hier unser Test-Update zu Valhalla inklusive aller Patches und Verbesserungen:

Keine Liebe auf den ersten Blick …

… und auch nicht auf den zweiten: Valhalla hatte es bei mir am Anfang nicht leicht. Die ersten Szenen rund um Eivors familiären Hintergrund konnten mich nicht abholen und zig Bugs vermiesten mir die ersten Spielstunden massiv. Wer Eivors Eltern waren und was mit ihnen passierte, berührte mich so wenig, dass ich mich kaum an sie erinnere. Und so schipperte Eivors Origin Story an mir vorbei.
Aufhorchen musste ich erst, als die zunächst lächerlich wirkenden Streitereien zwischen Sigurd und Eivor immer häufiger ausbrechen.

Open-World-Krise: Skull + Bones ist nur die Spitze des Eisbergs Video starten 1:18:08 Open-World-Krise: Skull & Bones ist nur die Spitze des Eisbergs

Sigurd, der für sich in Anspruch nimmt, wesentlich stärker mit der Kultur und Religion der Wikinger verbunden zu sein, und als Jarl eine gehobene Stellung im Rabenklan genießt, fühlt sich dennoch durch Eivor bedroht. Warum, das weiß niemand so genau. Vielleicht ahnt er, dass das Schicksal für Eivor eine tragendere Rolle bereithält.

Und tatsächlich wirkt es aus Sigurds Perspektive vermutlich, als würde Eivor alles einfach nur so zufliegen. Die Herzen der Menschen in ihrem Umfeld, die Aufmerksamkeit der Seherin und letztendlich sogar ebenjenes Schicksal, das er für sich selbst auserkoren hat. Von Neid zerfressen fällt es ihm im Verlauf der Story immer schwerer, Eivor mit Liebe und Respekt zu begegnen. Eivor selbst kann natürlich absolut nichts dafür und ist bemüht, die Beziehung zu Sigurd zu retten – zunächst zumindest.

Diese Form des Geschwisterzwists kenne ich nur zu gut aus meinem heißgeliebten Dragon Age 2. Mein Hawke hat als Magier ja auch so seine Probleme mit dem Brüderchen, auch wenn die allumfänglichen Dramen in BioWare-Titeln natürlich noch einmal ein paar Schippen oben drauf sind.

Eivors und Sigurds Beziehung zueinander ist komplex, wie so oft unter Geschwistern. Eivors und Sigurds Beziehung zueinander ist komplex, wie so oft unter Geschwistern.

Von einem AC erwarte ich nicht dasselbe Niveau und nicht einmal dieselben Gefühle. Im Grunde erwarte ich bei AC überhaupt nichts und das ist vielleicht auch der Schlüssel.

Ohne Erwartungen war ich bereit, mich einfach nur in einer weiteren opulenten Open World gehen zu lassen und das Beste: mit Wikingern.

Als der öde elterliche Hintergrund durch Sigurds und Eivors Kabbeleien abgelöst wurde, flammte mein Interesse überraschend auf. Es folgte ein Wechselbad der Gefühle. Dieses »Ach können sie sich nicht einfach nur liebhaben?« auf der einen Seite und ich als Mensch mit älterer Schwester, der diese irrationalen Konflikte zwischen Geschwistern durchaus nachvollziehen kann, auf der anderen Seite.

Es ist umso schöner, dass ich beim Spielen aktiv beeinflussen kann, wie der Geschwisterzwist ausgeht.
Je nach Wahl der Spielerinnen und Spieler kann es zwischen den beiden sogar zu einer handfesten Auseinandersetzung kommen: Eivor schlägt erst Basim und dann Sigurd mit der geballten Faust ins Gesicht. Lassen wir es hierzu kommen, ist eine Versöhnung der Ziehgeschwister nahezu ausgeschlossen.

Derartige Auswirkungen unserer Entscheidungen und die Darstellung problematischer Geschwisterbeziehungen, findet sich in Spielen eher selten. Umso besser, dass Valhalla sich hier einen klaren Schwerpunkt setzt

Nele Wobker
Nele Wobker


Nele zockt als Gaming-Freelancerin und Teilzeitwikingerin sehr viele verschiedenste Spiele und ist gefühlt eine der wenigen, die die neueren Assassin‘s Creeds gegenüber den älteren bevorzugen. Sie findet, Eivor, Alexios/Kassandra, Bayek und Basim lassen sich intuitiver spielen und ihre Geschichten sind für sie nachvollziehbarer. Dennoch verbrachte sie aber auch zig Spielstunden in Syndicate, Black Flag und den anderen AC-Teilen. Egal, welchen der Titel jeder nun für sich bevorzugen mag, hält sie es für wichtig, Spiele nicht danach zu bewerten, ob sie nun »gut« oder »schlecht« sind, sondern danach, wie man sich beim Spielen fühlt. Am Ende muss jeder sich doch fragen: »Hatte ich Spaß? Wurde ich unterhalten? Hat mir dieses Spiel vielleicht sogar geholfen?« Die Gründe dafür, warum das dann so ist, sind Neles Meinung nach zweitrangig. Hauptsache man kann etwas für sich daraus mitnehmen.

Und dann ging’s mit Randvi in die Kiste

Randvi ist eigentlich Sigurds Ehefrau, interssiert sich aber sehr schnell über ein freundschaftliches Verhältnis hinaus für Eivor. Randvi ist eigentlich Sigurds Ehefrau, interssiert sich aber sehr schnell über ein freundschaftliches Verhältnis hinaus für Eivor.

Doch erst einmal hieß es für mich und Eivor »Love Makin‘, Heart Breakin‘, Soul Shakin‘«. Richtig, ich habe mit Eivor den kompletten En Vogue-Song »Don‘t let go« nachgespielt. Zunächst permanent verständnisvoll dem eifersüchtigen Ziehbruder gegenüber empfand ich von allen Romanzenoptionen nämlich ausgerechnet Sigurds Ehefrau Randvi am reizvollsten.

Die Affäre der beiden sorgte für zusätzliches Öl im Feuer des Dreiergespanns und bereitete mir ein kinoreifes, deliziöses Drama. Ab da bewegte mich, was auch Eivor bewegte und mir wuchs diese Hauptfigur mehr und mehr ans Herz.

Wenig Realwelt-Drumherum

Die Parts in der »realen« Gegenwartswelt waren in AC neben der besch…eidenen Steuerung schon immer mein größter Graus. Sie haben mich stets aus den Geschichten meiner eigentlichen Hauptcharaktere herausgerissen – und das gefiel mir gar nicht.
In Valhalla aber wirkte nicht nur die Steuerung erstmals etwas angenehmer, auch die mir unliebsame Gegenwartsstory war meiner Meinung nach deutlich besser integriert. Stichwort Basim, ohne hier unnötig zu spoilern.

Im Vergleich zu Eivors Realität ist sie zwar trotzdem kein Sahnehäubchen, aber hier muss ich fairerweise zugeben, dass es auch echt hart ist, mit dieser zu konkurrieren. Denn wenn Englaland und die anderen mittelalterlichen Schauplätze eines sind, dann wunderschön und Eivor brilliert in meinen Augen als schillerndste Hauptfigur aller Assassin’s Creeds.

Frau Der norwegische Vorname »Eivor« ist eigentlich weiblich ...

Mann ... wir dürfen Eivor aber auch als Mann spielen und jederzeit mitten im Spiel wechseln.

Besonders toll: Ich kann Eivors Geschlecht jederzeit ändern. Das hat im Verlauf des Spiels für mich persönlich einen so signifikanten Unterschied gemacht, dass ich einige Szenen noch einmal gespielt habe, nur um Eivor mit anderem Aussehen und mal als Mann, mal als Frau in den entsprechenden Situationen zu erleben.

Eivor ist für mich der schlichte Beweis, dass Nordmänner und -frauen nicht immer als grausame alles und jeden abschlachtende Ungeheuer dargestellt werden müssen, sondern auch einfach mal Menschen sein dürfen, die sich um andere sorgen, lieben, hassen, sich betrügen und wieder vertragen.

Endlich Feierabend?

Valhalla erlaubt es mir, in meinem nordischen Traumsetting abzuschalten. Ich bekomme alles geboten, was ich zu einem Feierabend brauche. Einfach nur Kopf aus und rumkloppen? Irgendein legendäres Tier wird bestimmt noch zu erlegen sein. Urlaubsreif? Schnell mal aufs Pferd gesprungen und ab zum nächsten eisigen Strand, um die Polarlichter zu bewundern. Drama gefällig? Eivor hat sicher noch Platz für eine weitere Liebschaft oder schaut, was Sigurd so treibt. Knuddelig und wohlig soll‘s sein? Auf zum Hunde und Katzen wuddeln.

Selbstverständlich ist Valhalla nicht das beste Story-Spiel aller Zeiten und ein Großteil der Kritik ist auch berechtigt. Aber wisst ihr was? Das ist mir egal. Ich war gerne mit Eivor unterwegs. Es hat mir zu jedem Zeitpunkt genau das gegeben, was ich wollte, abgesehen vom unmittelbaren Spielstart damals. Denn in vielen anderen Spielen kann ich mir nicht frei aussuchen, was ich in einer offenen Spielwelt erleben will und was ich mir nach einem anstrengenden Arbeitstag überhaupt noch zutraue. Das Wikinger-Setting fühlt sich für mich sehr organisch und vor allem menschlich an und wird durch Eivor als zugängliche, empathische Hauptfigur abgerundet.

Wie man schöne Meereslandschaften gestaltet, wusste Ubisoft schon vor Skull and Bones. Wie man schöne Meereslandschaften gestaltet, wusste Ubisoft schon vor Skull and Bones.

Stumpfes Abgrasen der Karte, geduldiges Steine stapeln, und ja, auch absolut bescheuerte Weltereignisse, gehen fast immer. Es darf für mich gerne auch mal banal sein. Ich will nicht permanent etwas fühlen und stattdessen lieber irgendeinen Sammelkram erledigen. Ich muss Eivor nicht kämpfen lassen oder gestresst durch irgendwelche Höhlen irren. Mit Eivor kann ich ins Bett gehen, angespannt am Schreibtisch hocken oder casual auf dem Sofa herumflätzen. Eivor ist mein Wikinger oder meine Wikingerin für jede Stimmung in einem meiner Lieblingssettings. Der ultimative Eskapismus für Nordfans, wie ich einer bin.

Ich verstehe jeden, der die offenkundigen Defizite kritisiert und teile das meiste davon. Dennoch habe ich mit Eivor die wohl schönsten AC-Stunden überhaupt erlebt. Eivor, die unfassbar gutaussehende Nordwelt, die im Vergleich zu Vorgängerteilen intuitivere Steuerung, das Plündern zu stimmungsvoller Musik, all das hat nach den kurzen Anlaufschwierigkeiten jedweden Frust verpuffen lassen.

Mir hat dieses epische Abenteuer viel Vergnügen bereitet und ich war etwas traurig, als ich auch den letzten DLC durch und bis auf die Meisterherausforderungen alle Trophäen erhalten hatte. Denn ab da gab es dann leider nichts mehr zu tun und ich musste mich von Eivor verabschieden. Wie es aussieht, für immer. Dieser Schluss klingt deprimierend, aber es ist wahr. Mich macht das traurig. Mir fängt sogar der Fischerjunge an zu fehlen.

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