Alles Gute zum Geburtstag, Vault Boy! Daumen hoch und ein zuversichtliches Grinsen, so reagierst du seit 20 Jahren auf Radioaktivität, Supermutanten und Killerskorpione. Du bist eine unverwüstliche Ikone der Spielegeschichte, die alle Widrigkeiten des Ödlands ebenso souverän wegsteckt wie den Wechsel von Entwicklungsteam und Publisher.
Dieser Artikel erschien ursprünglich im Oktober 2017.
Heute bist du als Coverboy auf dem vorläufigen Gipfel deines Ruhms angekommen: In diesen Tagen wippt uns deine blonde Tolle von der Fallout 4-»Game of the Year«-Sammlung entgegen - und auch bei deinem ersten Ausflug in Online-Gefilde in Fallout 76 stehst du mit im Zentrum der Öffentlichkeit. Dein naiver Optimismus passt perfekt zu den 1950er-Vibes und dem schwarzen Humor, die deiner düsteren Endzeitwelt Originalität und Charme verleihen. Und auf deinem Lebensweg konntest du eine positive Einstellung auch gut gebrauchen.
Du hast es anfangs nicht leicht gehabt, eine Rollenspielgröße wollte deine Geburt verhindern. Doch deine geistigen Eltern liebten dich so sehr, dass sie lieber auf ein Regelwerk verzichteten, als dich zu opfern. Lass uns doch zusammen eine Nuka-Cola aufmachen und uns gemütlich zurücklehnen, um mehr über deine Entstehungsgeschichte zu plaudern - kurz bevor du deine Singleplayer-Wurzeln endgültig hinter dir lässt und mit Fallout 76 zu einer Multiplayer-Ikone wirst.
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Kämpfen, schleichen, quatschen
Mit Speck fängt man Mäuse. Mit Pizza fängt man Entwickler. Ende 1993 soll Tim Cain für seinen Arbeitgeber Interplay Tools und Engines entwickeln, von einem Spiel hat keiner etwas gesagt. »Da ich tagsüber nicht Leute ablenken sollte, die an anderen Projekten arbeiteten, blieb ich abends lange im Besprechungszimmer, um mit ihnen zu reden«, erinnert sich Cain im Gespräch mit GameStar.
Vom Duft der Köder-Pizza angelockt, schart sich bald ein buntes Grüppchen zusammen, um einige Monate lang ab 18:30 Uhr über Spielideen zu spinnen - dieses Besprechungszimmer wird zur Geburtswiege der Fallout-Serie. »Diejenigen, die von Anfang an dabei waren, waren Leute, die einfach etwas anderes machen wollten und bereit waren, dafür ihre Freizeit opfern«, beschreibt Cain die Keimzelle des Teams. Doch was ist die spielerische Vision, die für diese rege abendliche Betriebsamkeit sorgt?
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»Es gibt zwei Dinge, auf die wir wirklich Wert legten und die wir während der gesamten Produktion stark betonten. Das Erste war die Nicht-Linearität. Sobald du mit dem Spiel beginnst, kannst du beliebig erkunden. Wir zeigten dir mögliche Wege, aber die konntest du auch ignorieren. Der zweite Aspekt: Bei jeder vorgeschlagenen Quest setzten wir uns hin und sagten "Okay, wie kann ich mich da durchkämpfen, durchschleichen, durchquatschen?". Das zog sich durch das gesamte Spiel. Diese Gedanken hatten wir schon zu Beginn, lange bevor das Team größer wurde.«
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Inspiriert vom einarmigen Alkoholiker
Eine wichtige Inspirationsquelle ist das universelle Rollenspielsystem GURPS von Steve Jackson Games. Bei Interplay gibt es zu der Zeit regelmäßige Tabletop-Spielabende, und Tim Cain leitet gerne kleine GURPS-Kampagnen, die nur aus fünf, sechs Räumen bestehen, aber zu höchst unterschiedlichen Resultaten führen. Ihm fällt dabei etwas auf: »Ob die Spieler überlebten oder starben, lag nicht nur an den Entscheidungen, die sie in den Dungeons trafen, sondern auch an ihren Entscheidungen während der Charaktergenerierung.«
Beim GURPS-System kann ein Charakter mit Handicaps versehen werden, um Bonuspunkte zur Stärkung anderer Eigenschaften zu erhalten. Spieldesigner Scott Bennie reizt das voll aus und erschafft einen einarmigen Alkoholiker als Kämpfer. Das geht nicht lange gut: »Die Gruppe flüchtete vor einem Monster und versuchte, über eine Leiter durch eine Luke zu entkommen«, erinnert sich Cain.
»Scotts Charakter war betrunken und hatte nur eine Hand, also fiel er bei einem Check die Leiter herunter. [Der Fallout-Spieldesigner] Chris Taylor stand schon oben bei der Luke und musste eine Entscheidung treffen: Klettere ich runter, um ihm zu helfen? Doch seine Wahl fiel darauf, lieber die Luke zu schließen und sich aus dem Staub zu machen. Und das blieb mir im Gedächtnis: Wie die Spieler in so einem kleinen Dungeon so grundliegend unterschiedliche Erlebnisse hatten.«
GURPS ist ein universelles Regelwerk, das nicht an bestimmte Genres oder Szenarien gebunden ist. Cain leitet auch eine größere Gruppe mit sechs, sieben Spielern, die beliebige Regelbücher als Charaktergrundlage verwenden dürfen: Fantasy, High-Tech, Spionage, Superkräfte, alles geht. In einem seiner Szenarios kommt das Heldensammelsurium anlässlich einer Beerdigung zusammen, die sich zu einem Mordfall entwickelt. Cain ist überrascht, wie durch die Spielweise der Teilnehmer diese unterschiedlichen Genres doch so gut zusammenpassen: »Diese Art von unerwartet auftretendem Spielerverhalten wollte ich auch in einem Computerspiel.«
Darum geht‘s: Als sich die Türen von Vault 13 öffnen, wartet eine ebenso tödliche wie offene Welt. 150 Spieltage hat unser Held, um einen neuen Chip für die Wasseraufbereitungsanlage zu besorgen. Dabei stößt er auf alle möglichen Feinde, Gefährten und skurrile Situationen. Mit seinen enormen spielerischen Freiheiten, dem raffinierten Charaktersystem und einem grimmig-humorvollen Retro-SF-Szenario schafft es Fallout schnell vom Geheimtipp zum Kultspiel. Testzitat: »Das Charakterwerte-System ist überaus umfangreich. Viele Missionen lassen sich definitiv auf zwei oder drei Arten lösen. … Aktionen meinerseits haben reelle, langfristige Auswirkungen. Kurzum: Seit langem wieder mal ein echtes, beinhartes Solo-Rollenspiel.« (85 von 100 Punkten in GameStar 12/1997)
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