Spiele werden Kulturgut
So ist der Rummel um Grand Theft Auto4 auch ein Lehrstück über die Presselandschaft. Der Hauptakteur: eine Fachpresse, die gleich in dreifacher Hinsicht von Legitimationszwängen getrieben ist. Denn erstens sehen sich Spielemagazine und -Websites unter Druck, den Enthusiasmus zu rechtfertigen, den sie selbst mit geschürt haben. Es gehört Mut dazu, sich vor die eigene Kundschaft zu stellen und zu sagen: Wir haben uns geirrt! Wer weiterjubelt, der bleibt sich zumindest selbst treu. Zweitens steht und fällt das Wertungsgefüge der meisten Magazine damit, dass es auf Vergleichbarkeit fußt. Grand Theft Auto 4 ist ein unbestritten besseres Spiel als der Vorgänger GTA San Andreas, und diese Tatsache muss sich in einer besseren Wertung niederschlagen. Der Metacritic-Wertungsschnitt von San Andreas liegt bei 96 von 100.
Wie seltsam das anmutet, fällt vor allem im Vergleich mit Filmen auf. »Iron Man ist ein wunderbar unterhaltsamer Film, in Sachen Tempo und Drehbuch fast durchgehend besser als GTA 4. Von der Kritik hat er im Schnitt 78 Punkte bekommen. Warum?«, wundert sich die US-Website vgchartz.com. Und antwortet gleich selbst: »Weil Filmkritiker von ihrem Medium wirklich Bahnbrechendes erwarten, bevor sie absurd hohe Wertungen vergeben.«
Jemand wird erwachsen
Die Qualität des Spielejournalismus steht in keinem Verhältnis zur Bedeutung seines Mediums. Die Autoren sind Spieler, sie sind gemeinsam mit ihrem Fachgegenstand der Schmuddelecke entwachsen. Sie suchen - und das ist der dritte, vielleicht wichtigste Legitimationszwang - nach einer künstlerischen Rechtfertigung für ihr Medium, dessen Bedeutung sie emporgehoben, dessen Kanten sie vergolden sehen wollen.
Die Spielekritik ist beseelt von dem Wunsch, in Videospielen traditionelle kulturelle Werte zu entdecken. Interessanterweise geht sie darin Hand in Hand mit der Publikumspresse. Denn das klassische Feuilleton hat begriffen, dass da ein gigantisches neues Medium herangewachsen ist. Das untersucht es mit dem althergebrachten Werkzeugsatz der Kulturkritik; das Ergebnis ist der jovialer Blick von oben, ein onkelhaftes Staunen, das die jubelnde Berichterstattung zu Grand Theft Auto 4 durchzieht: »Schau, das Baby hat sein erstes Wort gesagt!«
Die Berichte verkennen, dass die vorrangige Aufgabe eines Spiels nicht zwangsläufig der Gesellschaftskommentar ist - und dass sich dennoch Satire, Zeitkritik und Scharfsichtigkeit seit Textadventure-Zeiten auf teils wesentlich originellere Art und Weise durch Spiele ziehen als in Grand Theft Auto 4. Doch das Wissen darüber fehlt. Das Medium Computerspiel hat keine akademische Historie. All das wird sich ändern, wird sich ändern müssen. Der Prozess ist im Gange. Vielleicht wird er durch den Hype um GTA 4 beschleunigt. Dann könnte man später einmal von dem Moment sprechen, in dem etwas erwachsen geworden ist - zwar nicht die Computerspiele, sondern ihre Beobachtung in den Medien.
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