Playing Columbine - Der Film zum Spiel zum Massaker

Ein junger Amerikaner macht erst ein Spiel über den Amoklauf von Columbine und dann einen Film über sich – Gewaltverherrlichung mit anschließender Selbstbeweihräucherung? Nein: »Playing Columbine« ist ein Appell für ernstere Spiele.

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Nur ein geistig kranker Mensch kann ein Videospiel über das Schulmassaker im amerikanischen Columbine programmieren. Wer will denn so etwas spielen? Das sind wahrscheinlich Gedanken, die bei vielen aufkommen, wenn sie das erste Mal von »Super Columbine Massacre RPG!« hören. Ein Programm, bei dem der Spieler in die Rolle von Eric Harris und Dylan Klebold schlüpft, um den Amoklauf aus dem Jahr 1999 nachzuspielen. Den Macher stellen wir uns als waffenvernarrten, amerikanischen Redneck mit Truckermütze vor. Ein Mann mit Südstaaten-Sing-Sang-Akzent, der die Gewalttaten an der Columbine High School in einer entrückten Weltsicht glorifiziert.

Videospiele langweilen ihn

Auch wir begegnen dem Spiel zunächst mit einer gehörigen Portion Ablehnung – bis wir »Playing Colmbine« sahen. Eine Dokumentation von Danny Ledonne, eben jenem amerikanischen Jugendlichen, der auch »Super Columbine Massacre RPG!« erschaffen hat. Der echte Danny ist ganz anders, als wir ihn uns vorgestellt haben: Ein kleiner, fröhlicher Mann mit Vollbart und flinken Augen, der mit ruhiger Stimme redet und seine Ausführungen oft mit geistreicher Ironie untermalt. Er hat das, was in Manager-Seminaren gerne »Präsenz« genannt wird: Wenn er redet, dann gehört ihm die ungeteilte Aufmerksamkeit im Raum. Weil er seine Ausführungen interessant, überlegt und schlüssig vorträgt. In seiner Freizeit wandert Danny gerne durch die Rocky Mountains in seinem Heimatstaat Colorado, am liebsten mit Schneeschuhen. Videospiele spielt er selten, weil sie ihn meistens langweilen.

Danny Ledonne veröffentlichte 2005 das Rollenspiel Super Columbine Massacre RPG. Danny Ledonne veröffentlichte 2005 das Rollenspiel Super Columbine Massacre RPG.

Seit jenem schrecklichen Amoklauf im April 1999 an einer High School in Littleton, Colorado, als die Schüler Dylan und Eric 13 Menschen töten und 24 verletzen, verspürt Danny Ledonne den Wunsch, die Geschehnisse aufzuarbeiten. Vielleicht auch, weil er damals ungefähr im gleichen Alter ist wie die Attentäter, und auch er Leistungsdruck und Mobbing an der Schule erlebt. Bereits damals entwirft Danny Konzepte für ein Spiel über Columbine, verwirft sie aber immer wieder, weil er kein erfahrener Programmierer ist. Bis er im Internet auf ein Programm namens »RPG Maker 2000« stößt, mit dem man ohne umfassende Programmierkenntnisse Rollenspiele entwerfen kann. Die sehen aus wie die J-RPGs der SNES-Ära.

Danny recherchiert alles an Informationen, was er über Columbine finden kann. Nach einem halben Jahr Arbeit, im April 2005, also genau sechs Jahre nach Columbine, stellt Danny »Super Columbine Massacre RPG!« kostenlos und anonym ins Internet und verteilt den Link an ein paar Freunde. Dann passiert erst mal nichts, kaum jemand interessiert sich für das Spiel. Bis zum April 2006, als gleich zwei Dinge geschehen.

Der Webdeveloper Roger Kovacs, Freund eines der Columbine-Opfer, deckt über Dannys PayPal-Account seine Identität auf und veröffentlicht sie im Internet. Danny bekennt sich daraufhin öffentlich als Macher. Kurz darauf erscheint im Fachportal Gamasutra ein Artikel über das Spiel. Immer mehr US-Medien greifen das Thema auf, die Download-Zahlen von Super Columbine Massacre RPG! explodieren.

Super Columbine Massacre RPG - Screenshots ansehen

Täter trainiert – in einem 2D-RPG?

Im September 2007 ereignet sich im kanadischen Montreal ein weiterer Amoklauf. Der 25-jährige Kimveer Singh Gill verletzt 19 Menschen und tötet einen Mitschüler, bevor er sich selbst erschießt. Im Internet gab der Täter an, dass Super Columbine Massacre RPG! eines seiner Lieblingsspiele sei. Massenmedien, Poltiker und Elternverbände schießen sich auf Dannys Ledonnes Spiel ein: Der Täter habe darin trainiert, er sei durch die Glorifizierung ermutigt worden, es Eric und Dylan gleich zu tun.

Der berüchtigte Anti-Spiele-Anwalt Jack Thompson behauptete, Amokläufer hätten mit Super Columbine Massacre RPG trainiert. Der berüchtigte Anti-Spiele-Anwalt Jack Thompson behauptete, Amokläufer hätten mit Super Columbine Massacre RPG trainiert.

Reichlich absurde Vorstellungen, wenn man sich die pixelige 2D-Grafik von Super Columbine Massacre RPG! anschaut. Auch eine Stilisierung der Täter zu Märtyrern sucht man vergebens, dann am Ende des Spiels landen sie in der Hölle, wo sie gegen Charaktere aus der Popkultur (z.B. Pikachu, Bart Simpson, Mega Man, Mario) sowie der Geschichte (z.B. Malcolm X, Ronald Reagan, John Lennon) antreten müssen.

Super Columbine Massacre RPG! ist also ein Fantasieprodukt. Trotzdem vermerken einige Journalisten, dass es wohl die akkurateste Faktensammlung über den Amoklauf sei. Wer das gleiche Wissen darüber aus klassischen Massenmedien holen will, der muss es mühsam zusammensuchen.

Ende 2006 wird das Spiel für die »Guerrilla Gamemaker Competition« des Slamdance Filmfestivals in Utah nominiert, zusammen mit Beiträgen wie Braid, flOw und Castle Crashers. Die Jury sieht in Dannys Titel eine legitime Aufarbeitung der Vorkommnisse von Columbine. Super Columbine Massacre RPG! sei ein Schritt in Richtung ernster Spielen, die nicht nur unterhalten sollen, sondern auch unangenehme Themen ansprächen.

Slamdance-Chef Peter Baxter nahm das Spiel wieder aus dem Festivalprogramm. Slamdance-Chef Peter Baxter nahm das Spiel wieder aus dem Festivalprogramm.

Völlig überraschend wird das Spiel dann aber vom Festivalchef Peter Baxter aus dem Programm genommen, ohne dass er Gründe dafür nennen möchte. Es kommt zum Eklat: Aus Solidarität ziehen die andern Entwickler ihre Titel ebenfalls zurück, Juroren distanzieren sich öffentlich von der Festivalleitung. Es war das Ende der Gamemaker Competition. Preise für Videospiele werden auf dem Slamdance Festival seitdem nicht mehr verliehen.

Danny, inzwischen Filmstudent am Emerson College in Boston, beschließt daraufhin, die Dokumentation »Playing Columbine« zu drehen, in der er seine Sicht der Dinge darstellen möchte. Damit ist ihm nebenbei ein Manifest für erwachsenere Videospiele und das Recht auf freie Meinungsäußerung gelungen. Ein Film, der nicht nur für Spieler interessant ist.

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