Das Märchen von der spannenden Story
An dieser Stelle könnte natürlich auch eine spannende Story zupacken und uns zu neuen Bauhöchstleistungen treiben. Die Ausgangssituation mit dem Wettrennen zum Mond würde ja auch durchaus was hergeben. Umso größer dann die Enttäuschung, was Anno 2205 aus dieser Vorlage macht. Die Geschichte passt auf einen Bierdeckel: Erreiche als Erster den Mond, baue dort Fusionsreaktoren und lasse dich dabei nicht von den bösen Separatisten der Orbital Watch aufhalten.
Das »Wettrennen« mit den Konkurrenzfirmen beschränkt sich darauf, dass animierte Porträts einen lobenden Kommentar ablassen, wenn wir sie Firmenranking überholen. Sämtliche Charaktere bleiben profillose Abziehbilder, egal ob stets korrekte und freundliche Beraterin, engagierter Arktis-Umweltschützer oder draufgängerische Rebellenanführerin auf dem Mond.
Die 29 Storymissionen sind zudem nur wenig mehr als ein Tutorial, in denen es in erster Linie darum geht, in den jeweiligen Regionen Fuß zu fassen und unsere Raumhäfen mondflugtauglich zu machen. Spielerische Überraschungen bleiben die Ausnahme, von spektakulären Skriptsequenzen ganz zu schweigen. Wer komplett friedlich spielen möchte, muss sogar mehrfach lediglich im Rang aufsteigen, um das Missionsziel zu erreichen. Kein Vergleich zum alternativen Infiltrieren einer Basis oder dem Befreien von Klimastabilisatoren beim militärischen Weg!
Nach rund zehn Stunden haben wir 27 der 29 Aufgaben entsprechend mehr routiniert als interessiert runtergespult. Die vorletzte Mission ist dann im Prinzip schon die Überleitung ins Endlosspiel, denn um von 40.000 auf 150.000 Investoren zu kommen, brauchen wir genauso lang wie für alle vorherigen Missionen zusammen.
Auch das Finale enttäuscht: Als Lohn für unsere Leistung gibt's nicht mal eine Endsequenz, sondern lediglich ein lapidares Lob unserer Beraterin per Porträteinblendung. Zugegeben, die Kampagne war noch nie große Stärke der Anno-Serie - vielleicht vom 1701-Addon Fluch des Drachen mal abgesehen. Und ja, der Hauptfokus von Anno 2205 liegt eindeutig auf dem Endlosspiel. Dennoch hätte man die Geschichte deutlich besser erzählen und inszenieren können.
Mit Atomraketen auf Treibstoffjagd
Für den meisten Diskussionsstoff unter den Anno-Fans wird jedoch nicht die Kampagne, sondern das neue Kampfsystem sorgen. Streit gibt's jetzt nur noch ausschließlich zu Wasser in sogenannten Konfliktzonen, eine im gemäßigten Gebiet, eine in der Arktis. In gerade mal vier unterschiedlichen Einsätzen befreien wir mit unserer Armada Klimastabilisatoren und Frachtschiffe, erobern Stützpunkte, zerstören jede Menge Flotten der Orbital Watch und sammeln nebenbei Rohstoffe.
Im Grunde funktioniert das wie in einem Echtzeit-Taktikspiel, einem sehr anspruchslosen wohlgemerkt. Wirklich kriegsentscheidend ist einzig der gut getimte Einsatz von Spezialfähigkeiten wie Schutzschild, EMP-Schlag oder Atomraketen. Die eine Hälfte davon benötigt blaue Treibstoffkugeln, die wir in erster Linie von zerstörten Feinden erhalten. Die andere Hälfte sammeln wir einfach als Kisten auf dem Schlachtfeld ein. Davon abgesehen reicht es trotz unterschiedlicher Geschwindigkeiten und Reichweiten in der Regel, einfach nur alle Schiffe in Richtung Ziel zu jagen und ein wenig mit den Spezialfähigkeiten zu haushalten.
Krieg ist auch keine Lösung
Ja, die Seegefechte funktionieren, machen optisch richtig was her und sind anfangs eine durchaus kurzweilige Abwechslung zum Aufbaualltag. Doch die Kampfeinsätze verlieren spätestens dann ihren Reiz, wenn wir zum dritten Mal die gleiche Mission angedient bekommen und lediglich einen höheren Schwierigkeitsgrad wählen dürfen.
Hinzu kommt, dass sie nahezu komplett vom restlichen Spiel entkoppelt sind und so wie ein Fremdkörper wirken. Warum dürfen wir unsere Armada zum Beispiel nicht selbst bauen und zusammenstellen? Stattdessen werden neue Schiffe automatisch freigeschaltet und der Flotte zugeteilt, sobald unsere Firma den dafür nötigen Rang erreicht. Natürlich war Waffengewalt in der Anno-Serie schon immer eher Nebensache. Aber immerhin eine integrierte Nebensache, bei der unsere wirtschaftlichen Leistungen maßgeblich auch unsere militärischen Chancen beeinflussten, so wir sie denn nutzen wollten.
Jetzt sind sie eine entkoppelte Nebensache, was für all diejenigen ein echtes Ärgernis ist, für die Anno bislang nicht nur ein friedliches Aufbauspiel war, sondern ebenso ein wirtschaftlicher, diplomatischer und militärischer Konkurrenzkampf. Denn davon ist in Anno 2205 nicht mehr viel übrig.
Anno 2205 Psychotest: Sind Sie bereit fürs neue Anno?
Ein Annoholiker kennt keine Pause!
Anno 2205 macht zweifelsohne vieles anders als seine Vorgänger. Es ordnet alles dem Ziel unter, ein möglichst episches Aufbauspiel-Erlebnis zu schaffen. Und das gelingt, trotz oder gerade wegen der Kompromisse beim Kampf- und Wirtschaftssystem. Nach 40 Spielstunden bewohnen über 200.000 Angestellte die Wolkenkratzerschluchten unserer zwei Großstädte. In der Arktis schuften rund 4.000 Arbeiter in über 50 Fabriken. Und auf dem Mond fräsen sich mehr als zwei Dutzend Bagger, Raupen und Riesenbohrer in die Kraterlandschaften, um dort Seltene Erden, Helium-3 oder Titan abzubauen.
Wir fühlen uns wohl in dieser Welt mit ihren freundlichen Farben und freundlichen Menschen. Obwohl jeder Mausklick einen Unterschied macht, fühlen wir uns nie gestresst, sondern können herrlich dabei entspannen, untermalt von ebenso stimmungsvoller wie angenehmer Musik. Ehe wir uns versehen, sind schon wieder zwei Stunden rum. Und wenn uns ein Spiel freundlich, aber bestimmt darauf aufmerksam macht, dass jetzt doch wirklich mal eine Pause angebracht wäre, dann kann es sich nur um ein echtes Anno handeln.
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