Draugen dreht sich auf den ersten Blick um ein Mysterium: Menschen in einem Dorf sind verschwunden, jemand ist gestorben und wir sollen den Fall lösen. Allerdings führt uns das Adventure im Test damit auf eine falsche Fährte. Statt einer Krimi-Story erleben wir am Ende vor allem eine Geschichte über Menschen. Um Spaß mit ihr zu haben, muss man akzeptieren, dass die eigenen Erwartungen vielleicht enttäuscht werden.
Draugen will gar keine packende Mystery-Story erzählen, sondern widmet sich ganz seinen Figuren. Das sorgt für eine frische und interessante interaktive Geschichte - zumindest, wenn man damit leben kann, dass »interaktiv« hier nur eine kleine Rolle spielt.
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Ein leeres Dorf und ein Todesfall
Wir spielen den Amerikaner Edward Charles Harden, der im Jahr 1923 das kleine Fischerdorf Graavik in Norwegen besucht. Er will dort seine verschwundene Schwester Betty finden und hat die Familie Fretland um Hilfe gebeten. Die haben ihn prompt zu sich eingeladen. Begleitet wird er von Alice, einer aufgeweckten 17-jährigen, die kein Blatt vor den Mund nimmt.
Welches Verhältnis die beiden zueinander haben, ist zu Spielbeginn nicht ganz klar. Allerdings werden sie schnell zu Ermittlungspartnern: Kaum haben sie mit ihrem kleinen Boot in Graavik angelegt, stellen die beiden fest, dass hier etwas nicht stimmt. Das Dorf ist völlig ausgestorben. Auch im großen Herrenhaus der Fretlands findet sich niemand, obwohl die Familie eigentlich hier wohnen und uns erwarten soll. Nur eine norwegische Fahne auf Halbmast deutet auf einen Todesfall hin.
Edward und Alice beschließen, das Rätsel um den Toten und die verschwundenen Dorfbewohner aufzuklären. So entspinnt sich schnell eine packende Krimigeschichte: Wir entdecken zum Beispiel, dass das norwegische Wort für »Verräter« an eine Tür gekritzelt wurde. Auch in manchen Dokumenten taucht es auf. Der Schriftzug »Kindermörder« in roter Farbe (oder Blut?) an der Innenwand eines Ladens gibt uns wiederum einen Hinweis auf den Toten.
Durch das Erkunden des Ortes finden wir immer mehr Hinweise und setzen nach und nach das Puzzle um ein Dorf zusammen, das am Tod eines Kindes zerbrochen zu sein scheint. Aber war es ein Mord? Wer hatte etwas damit zu tun? Gab es ein Motiv? Wir grübeln permanent. Auch weil Draugen keine definitive Antwort geben will. Am Ende müssen wir für uns selbst entscheiden, wie die Lösung aussieht. Das ist natürlich etwas unbefriedigend, passt aber zum Spiel.
Es brodelt unter der Oberfläche
Unser Ziel in Draugen ist nicht, einen Mörder zu schnappen oder den Fall zu lösen. Das Spiel lebt vielmehr von der Interaktion zwischen Edward und Alice. Es ist herrlich komisch, den beiden bei ihren humorvollen Schlagabtauschen zuzuhören, wenn Alice sich zum Beispiel über Edwards Höflichkeit lustig macht: Klopfen wir vorsichtig an eine Tür im Dorf, verstellt sie spottend die Stimme und fragt, ob der Herr Amerikaner denn zum Tee bleiben wolle. An anderer Stelle wiederum beklagt sie sich, dass Edward eine blutige Situation im Detail beschreibt, während der nur trocken erwidert, dass sie ja diejenige sei, die immer etwas Neues lernen wolle.
Im nächsten Moment versinken die beiden dann aber wieder in ernsten oder gefühlvollen Dialogen. Beispielsweise wenn Alice Edward darauf hinweist, dass er sich seit Bettys Verschwinden verändert hat, in sich gekehrt ist und sich abschottet.
Ihre (auf Englisch großartig vertonten) Gespräche wirken deshalb glaubhaft, weil viel beiläufig erwähnt wird oder nur zwischen den Zeilen steht. Wir spüren zum Beispiel die Eifersucht von Alice, wenn Edward nur an Betty denkt oder hören ihren Schock über die Ereignisse im Dorf an ihrer zittrigen Stimme. Wenn Alice zornig verlangt, dass wir sie anschauen, wenn sie mit uns redet, bricht das auch gezielt damit, dass wir Nebenfiguren in Spielen sonst meist ignorieren dürfen. In solchen Momenten ist Draugen erzählerisch am stärksten, weil sich die Dialoge echt und nicht geskriptet anfühlen.
Am Ende gibt es auch eine überraschende Wendung, die das Schicksal von Graavik und die beiden Figuren sozusagen über ein übergeordnetes Thema rund um Trauer und Trauma-Verarbeitung zusammenbringt. Sie hängen zusammen, aber nicht so, wie man vielleicht denken würde.
Das lässt die Ereignisse und vor allem die Charaktere noch einmal in einem anderen Licht erscheinen. Die Idee fügt sich gut in die Grundstimmung des Adventures ein, allerdings hapert es an der Ausführung. Die Entwickler versuchen hier, komplexe psychische Probleme einzubringen, ohne ihnen genügend Raum zu geben. Dadurch werden letztlich wieder nur bekannte Klischees in den Fokus gerückt. Beispielsweise, dass Menschen mit mentalen Problemen einfach »verrückt« sind, Stimmen hören oder Halluzinationen haben.
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