Am Ende unseres Gesprächs sagt Mattias Filler etwas sehr Interessantes. Er hat viele Jahre bei Piranha Bytes als Autor sowie Game Designer gearbeitet und miterlebt, welche Extreme die Spieleentwicklung bereithalten kann: exzessive Überstunden, ein Betrugsskandal in Millionenhöhe und ein gespaltenes Entwicklerteam, das sich erst selbst im Weg steht und später daran zerbricht. Sein Fazit:
»So ein Gothic machst du halt nur einmal, oder in unserem Fall zweieinhalbmal.«
Mit Gothic, Gothic 2 und der Erweiterung Nacht des Raben schufen die Eigenbrötler von der Ruhr etwas Einzigartiges, dass bis heute nachhallt, obwohl nicht immer erkennbar ist, wie sie das eigentlich geschafft haben. Wir würden die Entwicklungsgeschichte von Gothic gerne mit einer Achterbahn vergleichen, doch es wäre verkehrt. Eine Achterbahn bleibt wenigstens auf ihren Schienen, während bei Gothic so einiges entgleist.
Denn die Entwicklungsgeschichte des Rollenspiel-Klassikers steckt voller Widersprüche, die von Entwicklerteams erzählen, die in der Rückschau ärgerlich stur sind. Die viel Pech haben, aber auch zusammenhalten, selbst wenn sie dafür auf viel verzichten müssen. Für diese fünfteilige Artikelreihe haben wir mit über 25 Personen gesprochen, die die Marke geprägt und mitgestaltet haben, um die Entwicklungsgeschichte vom Debüt bis hin zu Arcania: Gothic 4 nachzuvollziehen. Piranha Bytes selbst wollte keine Interviews geben, daher sprechen hier größtenteils ehemalige Gothic-Entwickler über ihre Vergangenheit.
Eine vollständige Rekonstruktion wird es jedoch nicht. Fast zwei Jahrzehnte sind seit der Veröffentlichung von Gothic im März 2001 vergangen. Erinnerungen verblassen, verfärben sich mit der Zeit immer stärker wie eine Tapete in einem Raucherhaushalt. Einige Entwickler konnten sich mehr die positiven Erlebnisse ins Gedächtnis rufen, während bei anderen die negativen Erfahrungen präsenter waren.
Auch dank der Hilfe der immer noch aktiven Gothic-Community, die ihre Lieblingsspiele seit Jahren mit detaillierten Archiven und Youtube-Videos kuratiert, lassen sich jedoch die Ereignisse ordnen und interpretieren. Im ersten Teil unserer Making-Of-Reihe geht es zunächst um einen finsteren Urknall, die Gründung von Piranha Bytes, und wie ein Kultklassiker seinen Anfang nahm.
Vorbildliche Unterwelten
»Wenn ich nicht gerade studiert habe, hing ich stundenlang in meiner Studentenbutze und habe Welten mit dem Editor gebaut«, erinnert sich Bert Speckels. Zusammen mit Ulf Wohlers und Dieter Hildebrandt tüftelt der Informatik-Student schon eine Weile an einer eigenen Spiele-Engine in MS-DOS. Wohlers und Hildebrandt arbeiten schon seit ihrer Schulzeit in Bremen daran, angespornt von Ultima Underworld: The Stygian Abyss, einem der ersten Spiele mit in Echtzeit berechneter 3D-Grafik.
Als sie Mitte der 90er-Jahre fürs Studium nach Oldenburg ziehen und dort Speckels kennenlernen, bilden sie ein Dreiergespann. Irgendwann reicht ihnen die Rumtüftelei nicht mehr. »Dann haben wir gesagt, ja schreiben wir halt Entwicklerstudios an und springen ins kalte Wasser.« Sie geben sich den Teamnamen Mad Scientist und packen auf drei Disketten eine Demo ihrer bisherigen Arbeit. Weil sie ein Action-Rollenspiel in düsteren Fantasy-Dungeons anstreben, nennen sie die Demo »Finster«.
Acht Unternehmen bekommen dieses Grafikgrundgerüst zu sehen. Dass vor allem für spröde Wirtschaftssimulationen wie Der Planer und Das Amt bekannte Greenwood Entertainment aus Bochum ist das einzige Studio, das sich ein eigenes Spiel mit der kruden Engine vorstellen kann. Ihr Hauptanteilseigner Funsoft will zu jener Zeit expandieren und ein internationales Publikum mit ambitionierteren Projekten ansprechen.
Aber nicht nur Funsoft kommen die drei Studenten gerade recht. Vier Greenwood-Mitarbeiter spielen schon etwas länger mit dem Gedanken, die animierten Excel-Tabellen beiseite zu legen und ihren Enthusiasmus für das Rollenspielgenre in ein eigenes Spiel zu gießen. Für Tom Putzki, Alex Brüggemann, Stefan Nyul und Mike Hoge ist »Finster« die Gelegenheit, auf die sie gewartet haben.
Aus dem anfänglichen Plan von Mad Scientist, mit ihrer jahrelang zusammengepfriemelten Technologie ein Spiel zu entwickeln, wird nach einigen Diskussionen aber doch nichts. In einer Zeit, in der 3D-Grafik in kurzen Abständen immer größere Fortschritte macht, ist ihre Engine schlichtweg veraltet. Außerdem wollen die Greenwood-Leute keinen Ultima-Underworld-Klon aus der Ego-Perspektive, sondern ein Rollenspiel in der Third-Person-Ansicht mit detaillierter Oberwelt.
Nach einiger Überzeugungsarbeit seitens Greenwood erkennen die Studenten schließlich die Vorteile eines Neustarts. »Wer Software-Entwicklung kennt, der weiß, dass man sich manchmal aber auch freut, mit dem Gelernten nochmal neu anzufangen«, sagt Speckels. Und so wird Engine Nummer zwei, die Zengine, eine technisch deutlich ausgereiftere Technologie bieten mit höherer Auflösung, Windows-Anbindung und einem richtigen Polygonnetz, die eine immersive 3D-Welt erschaffen kann.
Der originale Gothic-Entwurf zum Durchblättern
Hier seht ihr eines der ersten Design-Dokumente, die Piranha Bytes erstellen, um Publisher von ihrem Konzept zu überzeugen. Viele Elemente wie der Multiplayer, die zwei Magiesysteme und eine mögliche Konsolen-Adaption werden es nie ins fertige Spiel schaffen. Mike Hoge muss heute darüber lachen, wenn er sieht, was sie damals mit Gothic vorhatten: Das Konzept viel zu ambitioniert, das Entwicklerteam viel zu unerfahren. Weil Piranha Bytes die Zeit zum Ausprobieren und Verfeinern bekamen, ging es aber doch irgendwie glatt.
Ein Knast entsteht
Während Mad Scientist in Oldenburg ihre neue Engine planen, beginnt bei Greenwood im 230 Kilometer entfernten Bochum die Konzeptionsphase für Projekt Orpheus. »Ich weiß, wie ich immer im Konferenzraum gesessen habe, weil es dort ruhig war und DIN-A3-Blätter vollgemalt habe«, erinnert sich Mike Hoge, der laut eigenen Aussagen damals »keine Ahnung von Tuten und Blasen« hat.
Zusammen mit seinen drei Greenwood-Kollegen Putzki, Brüggemann und Nyul sitzt er 1997 ungefähr zwei Wochen über den groben Entwurf für Setting und Gameplay. Die Spielwelt soll so designt werden, dass ihren Bau auch ein kleines Team stemmen kann. Also braucht es irgendeine Art der Begrenzung. Eine Insel erscheint ihnen allerdings zu offensichtlich. Ein unsichtbarer Zaun zu stillos.
»Moment mal: Unsichtbarer Zaun? Da könnte man eine magische Barriere draus machen«, erklärt Hoge den damaligen Denkprozess. »Und dann ribbelte sich das Ganze auf: Magische Barriere, warum ist die da? Wollen die was raushalten? Wollen die was drin halten? Es könnte ein Gefängnis sein. Dann kamen die Synergien mit dem Film ›Die Klapperschlange‹.«
Bevor jedoch aus den Überlegungen auch nur eine Codezeile werden kann, gerät Greenwood ins Straucheln. Publisher Funsoft dreht den Geldhahn zu, möglicherweise wegen Unstimmigkeiten zwischen beiden Unternehmen. Für die Mitarbeiter ist das eine Katastrophe.
»Wir haben ein ganzes Wochenende im Bürokonferenzraum verbracht und überlegt, wie es weitergehen kann. Und daraus wurden dann vier Einzelfirmen gegründet«, sagt Tom Putzki über die Gründung von Piranha Bytes im Oktober 1997. Neben den vier ehemaligen Angestellten ist auch Greenwood-Gründer Markus Scheer als stiller Teilhaber an der Entstehung von Piranha Bytes beteiligt. Scheer, der später noch wichtig wird in dieser Geschichte, pumpt etwa 300.000 Mark in das Entwicklerstudio.
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