Nivalis ist ein Ort, an dem ich hingerichtet werde, wenn ich illegal die Musikrichtung Jazz praktiziere. Es ist ein Ort, an dem Androiden-Gangster sich gegen einen Megakonzern stellen, indem sie heimlich Spielplätze auf seinem Grund errichten oder durchgedrehte Aufzüge Menschen fressen wollen. Aber auch ein Ort, an dem mir der Geist meines Hundes als KI Gesellschaft leistet, wenn ich in meinem Auto an Wolkenkratzern mit bunt leuchtenden Neon-Reklamen zu Elektroklängen vorbeifliege.
Kurz: Nivalis verkörpert die Essenz einer Cyberpunk-Metropole. Das dystopische SciFi-Untergenre lebt von einem wilden Mix aus einer düsteren Zukunftsvision, grellen Farben, regnerischen Nächten und absonderlichen Figuren, die scheinbar nicht nur ihre Menschlichkeit, sondern auch ihren Verstand aufgegeben haben. Trotzdem finde ich in der über den Wolken schwebenden Stadt des Adventures Cloudpunk überraschend viel Menschliches in Form von kleinen Geschichten, humorvollen Kommentaren oder auch sympathischen Figuren.
Mein Fazit lautet deshalb: Da kann Cyberpunk 2077 sich schon jetzt ein paar Notizen machen. Könnt ihr wie ich CD Projekts großes Rollenspiel gar nicht mehr erwarten, solltet ihr deshalb unbedingt einen Blick auf Cloudpunk werfen.
Warum nur ein kleiner Wertungskasten?
Cloudpunk ist Teil unserer neuen Kurztest-Reihe, bei der wir kleine und eher unbekannte, aber unserer Meinung nach empfehlenswerte Spiele mit sehr persönlichen Texten für euch testen. Dabei geht es weniger um eine umfangreiche Analyse sämtlicher Gameplay-Details, sondern eher darum, in Kolumnenform zu beschreiben, warum dieser Titel für den jeweiligen Autoren etwas Besonderes ist. Erster Artikel dieser neuer Format Serie war der Kurztest zum kostenlosen Horror-Abenteuer We Went Back.
1. Grund: Die Story
Cloudpunk erinnert mich beim Spielen ein wenig an den fantastischen Film Drive. Nicht nur aufgrund der Elektromusik, sondern auch weil ich mit Rania eine Fahrerin steuere. Die manövriert allerdings kein Fluchtauto durch die Lüfte, sondern arbeitet für den illegalen Lieferdienst Cloudpunk. Das Motto: Pakete annehmen und abgeben, keine Fragen stellen.
Aber was mache ich, wenn mein Paket unangenehm tickt oder plötzlich mit mir spricht? Um jede Lieferung entspinnt sich eine kleine Geschichte, die mal verrückt ist - zum Beispiel wenn ich einen Kopf rumkutschiere, damit er auf einen Putzroboter gesetzt werden kann, wovon er sich ein besseres Leben erhofft. Oder tragisch, wenn ich wählen muss, ob ich einem altem Rennfahrer helfe sein Fahrzeug zu tunen – wohlwissend, dass ich ihn damit vielleicht in den Tod schicke.
Ich darf mich auch dagegen entscheiden, genauso wie ich vielleicht das tickende Päckchen lieber entsorge. Mal ändert sich dann nur ein Dialog, manchmal werden die Folgen aber weitreichender: Nach dem weggeworfenen Päckchen kontaktiert mich eine mysteriöse KI und droht mir. Cloudpunk duldet keine weiteren Fehler.
Aber wer ist sie und woher weiß sie, was ich getan habe? Und was verbirgt sich hinter CORA? - einem Begriff, der bei meinem sonst so gefassten Chef »Control« Schweißausbrüche auslöst. Ich will nicht nur tiefer in die kleinen Geschichten eintauchen, sondern auch mehr über das große Ganze dahinter erfahren. Mein Cyberbrain wittert eine Verschwörung!
Die Autorin:
Da Deus Ex ihr absolutes Lieblingsspiel ist und sie schon schon als Freiberuflerin einen großen Cyberpunk-Report geschrieben hat, teilt sich Elena mit Kollege Dimi die Cyberpunk-Hohheit auf GameStar.de. Da saugt sie natürlich nicht nur jedes Info-Häppchen zu Cyberpunk 2077 auf, sondern sucht auch immer wieder nach kleinen Spieleperlen im Genre, wie beispielsweise das charmante Pixel-Adventure Read Only Memories oder eben jetzt Cloudpunk.
2. Grund: Die Charaktere
Rania ist sympathisch. Als Musikerin vom Land findet sie sich in der riesigen Stadt genauso schlecht zurecht wie ich. Die Anonymität der Großstadt im Kontrast zur permanenten Überwachung des Megakonzerns CorpSec sind für sie genauso fremd, wie die Drogenhändler an jeder Ecke oder die nervige Fahrzeug-Navi-KI, die sie prompt durch ihren Hund Camus austauscht. Der ist vielleicht nur ein Datenhaufen, geht aber trotzdem mit der Begeisterung eines schwanzwedelnden Golden Retrievers an jede Aufgabe heran.
Zwischen den beiden entstehen regelmäßig charmante und humorvolle Dialoge - beispielsweise wenn der übereifrige Camus Rania auf die Ratten-Population in ihrem Wohngebäude hinweist, als diese über zu wenig Natur in der Stadt klagt. Rania existiert zudem nicht nur für ihre Aufträge. Zwischendurch will sie müde in ihre Wohnung zurückkehren, sich einen kleinen Kaffee holen oder mit dem Typen vorm Café flirten - auch wenn der ihr nur irgendeine grässliche Hipster-Pizza aufschwatzen will.
Auch die Figuren in der Welt machen mich neugierig auf mehr: Parke ich mein Fahrzeug zwischendurch, treffe ich allerlei wunderliche Gestalten, die mich zum Lachen bringen, aber mit ihrem Schicksal mitunter auch berühren: Vor meiner Wohnung wartet zum Beispiel die Androidin Evelin, die eigentlich eine Chirurgin ist, aber von niemandem als solche anerkannt wird - weil sie ein Roboter ist. Ihre beste Freundin war ebenfalls Ärztin, wurde aber bei der Arbeit getötet, weil sich in der Stadt und im Umfeld Unfälle und Anschläge häufen. Offenbar steht es um Nivalis schlechter als gedacht.
3. Grund: Die Spielwelt
Durch die Voxel-Grafik (also quasi 3D-Pixel-Optik) könnte Cloudpunk auf den ersten Blick etwas detailarm und gleichförmig wirken, der Schein trügt aber: An jeder Ecke blitzen wir bunten Neontafeln entgegen, japanische Schriftzeichen (da hat sich der Sprachkurs endlich gelohnt!) wollen mich in Karaoke-Bars und Ramen-Nudelsuppen-Buden locken und Hochhauswände mit flackernden Fenstern wechseln sich mit Parks, Geschäften oder auch Autobahnen ab, auf denen mein Fahrzeug einen Boost erhält. Fliegen kann ich aber überall und staune dabei über Vertikalität und Detailliebe beim Design der Welt.
Bei dem Anblick sehe ich auch gerne darüber hinweg, dass mein treues HOVA-Fahrzeug sich mit unter etwas hakelig steuert. Brettere ich zu oft irgendwo gegen oder verfahre mich, muss ich allerdings nur nachtanken oder mein Flugauto reparieren, was durch die fairen Geldbelohnungen für erfüllte Missionen kein Problem ist. Außerdem kann ich jederzeit völlig frei durch die Open World düsen und Schrott zum Verkaufen sammeln. Das lohnt sich sogar doppelt, weil ich dabei mitunter auch auf die ein oder andere spannende Nebenmission stoße, die sich von den Lieferaufträgen abhebt.
Cloudpunk liefert mit seinen knapp zehn Stunden Spielzeit einen kurzweiligen und spannenden Cyberpunk-Traum, der für mich die ideale Vorspeise zu Cyberpunk 2077 war, aber auch wunderbar für sich allein stehen kann, wenn man einfach mal wieder Lust auf ein gelungenes Story-Abenteuer hat. Cloudpunk war übrigens Teil meiner Geheimtipps im April 2020 - werft doch einen Blick auf die, wenn ihr noch mehr Nachschub braucht. Kollegin Géraldine stellt in ihrer Kolumne zum DCP 2020 außerdem mit The Longing noch ein weiteres ganz besonderes Spiel vor, das innovativer ist also mancher Blockbuster.
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