»Atmosphäre der Angst«: Neue Reportage zu Gollum wirft dunkle Schatten auf Daedalic

Hinter dem Gollum-Fiasko steckt offenbar weit mehr als nur technische Mängel. Angestellte erheben schwere Vorwürfe gegen Daedalic Entertainment.

Das Gollum-Fiasko zieht offenbar weitere Kreise als bisher angenommen. Das Gollum-Fiasko zieht offenbar weitere Kreise als bisher angenommen.

Update von 18:05 Uhr: Inzwischen hat uns eine offizielle Stellungnahme von Daedalic erreicht. Wir haben diese ganz unten am Ende dieser News in Gänze veröffentlicht.

Update vom 10. Oktober 2023: Wir haben nun auch den kompletten Game-Two-Fragenkatalog und die Antworten von Daedalic Entertainment veröffentlicht.

In der Welt der Videospiele ist der Fall von Der Herr der Ringe: Gollum ein lehrreiches Beispiel für ambitionierte Projekte, die an verschiedenen Problemen zerbrechen.

Das Spiel, das nach mehreren Verschiebungen am 25. Mai 2023 veröffentlicht wurde, wurde von Daedalic Entertainment produziert, einem der renommiertesten Spieleentwickler Deutschlands. Trotz Erfolgen mit Spielen wie Edna bricht aus und der Deponia-Reihe konnte Daedalic mit Gollum die Erwartungen nicht erfüllen. Technische Mängel und spielerische Schwächen überschatteten den Start.

Warum das einst vielversprechende Spiel spektakulär scheiterte, haben die Kollegen von Game Two ausführlich recherchiert und in einer 40-minütigen Reportage aufbereitet - und sind dabei auf schwere Vorwürfe gegenüber dem Management des Entwicklerstudios gestoßen:

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Angestellte erheben massive Vorwürfe gegen Daedalic

Was ist passiert? Game Two interviewte aktuelle und ehemalige Daedalic-Mitarbeiter, darunter auch Mitgründer Jan Poki Baumann. Die Reportage deckte eine Kultur der übermäßigen Arbeitsbelastung und der unbezahlten Überstunden auf, die von der Geschäftsleitung angeblich gefördert wurde.

Die Führungskräfte von Daedalic, insbesondere Carsten Fichtelmann und Stephan Harms, werden im Video für ihren harten und unnachgiebigen Führungsstil kritisiert. Obwohl Daedalic in einer Stellungnahme an Game Two beteuert, ein freundliches Betriebsklima zu schaffen, ist die Unzufriedenheit der Mitarbeiter in den Interviews spürbar.

Ein nicht namentlich genannter Mitarbeiter behauptet sogar, dass eine Atmosphäre der Angst geherrscht haben soll und die Mitarbeiter nur im Flüsterton miteinander sprachen, um zu verhindern, dass Fichtelmann oder Harms sie hörten.

Zudem sollen übermäßig viele Praktikanten und Berufseinsteiger beschäftigt und ausgebeutet worden sein:

  • Daedalic soll diese gezielt angeheuert haben. Nicht nur, weil sie billigere Arbeitskräfte darstellen würden, sondern auch, weil vpn ihnen aufgrund mangelnder Berufserfahrung keine Widersprüche zum vorherrschenden Klima zu erwarten wären. Sie könnten das Stressniveau nicht als kritisch oder ungewöhnlich einschätzen und seien als dankbare Neulinge in der Branche bereit, mehr zu tun.
  • 2014 soll es eine Praktikantenrevolte gegeben haben, weil Daedalic sich geweigert haben soll, das neu eingeführte Mindestlohngesetz umzusetzen.
    • Praktikanten wurden angeblich aufgefordert, einen Nachtrag zu unterzeichnen, der ihre Arbeit als freiwilliges Praktikum deklarierte, um den Mindestlohn zu umgehen.
    • Ein Mitarbeiter berichtet von einer Vertragsverlängerung mit einem Gehalt unter dem Mindestlohn und einer abgelehnten Bitte um ein klärendes Gespräch - da er sich weigerte, einen Auflösungsvertrag zu unterschreiben, wurde er angeblich suspendiert.

Crunch ist übrigens nicht nur bei Daedalic ein Problem, sondern in großen Teilen der deutschen Spielebranche - mehr dazu lest ihr in unserem Report:

Das lief bei der Entwicklung vom Gollum schief

Die Reportage von Game Two zeigt laut Autoren auch die Diskrepanz zwischen den ehrgeizigen Zielen für das Gollum-Spiel und dem zur Verfügung stehenden Budget. Mit 15 Millionen Euro sei das Budget für deutsche Verhältnisse zwar großzügig bemessen, im internationalen Vergleich zu anderen Triple-A-Titeln jedoch völlig unzureichend für die eigenen Ansprüche gewesen.

Laut Game Two soll es zudem noch viele weitere Probleme während der Entwicklung gegeben haben:

  • Falsche Herangehensweise an das Spiel:
    • Die Story sei vor dem Gameplay priorisiert, das Gameplay vernachlässigt worden und nicht durchdacht gewesen.
  • Technische Herausforderungen:
    • Gollum habe als Vierbeiner einzigartige Herausforderungen dargestellt, insbesondere bei Animationen und Kollisionserkennung.
  • Mangel an klarem Fokus:
    • Zu viele Elemente und Mechaniken seien in Betracht gezogen und später verworfen worden, was zu einer Verwässerung des Kernspiels führte.
  • Zeitdruck:
    • Die Lizenz sei zeitlich begrenzt gewesen und trotz Verschiebungen habe es nicht genügend Zeit gegeben, um das Spiel zu perfektionieren.
  • Qualitätsprobleme:
    • Das Spiel wurde mit offensichtlichen Mängeln veröffentlicht, einschließlich Copy/Paste-NPCs und unvollständigen Animationen.
  • Arbeitsbelastung und Crunch:
    • Das Team habe Überstunden machen müssen, und die Qualitätssicherung war besonders betroffen.
  • Unternehmenspolitik und -kultur:
    • Die Mitarbeiter litten nach eigenen Aussagen unter der zuvor erwähnten schwierigen Unternehmenskultur.
  • Marketing-Fehler:
    • Der erste CGI-Trailer wurde öffentlich stark kritisiert, und das Team sei mit der Qualität unzufrieden gewesen - ihr könnt ihn euch hier noch einmal ansehen:

Herr der Ringe: Gollum - Der erste Teaser zeigt natürlich tote Fische und feurige Berge Video starten 1:03 Herr der Ringe: Gollum - Der erste Teaser zeigt natürlich tote Fische und feurige Berge

Das Ergebnis der problematischen Entwicklungsphase: Gollum wurde zum Release sowohl von Spielern (größtenteils negative Bewertungen bei Steam, Metacritic-User-Score von 1,2) und Fachpresse (unseren Test könnt ihr hier noch einmal nachlesen) mit verheerenden Kritiken abgestraft.

Die Konsequenzen des Gollum-Desasters waren für Daedalic gravierend. Die Entwicklungsabteilung wurde geschlossen und ein Großteil der Mitarbeiter verlor ihren Arbeitsplatz. Ein geplantes Nachfolgeprojekt im Herr der Ringe-Universum, das bereits finanzielle Förderung erhalten hatte, wurde ebenfalls gestoppt.

Statement von Daedalic

Weil wir bestrebt sind, eine ausgewogene und umfassende Berichterstattung zu gewährleisten, haben wir vor Veröffentlichung dieses Artikels eine offizielle Stellungnahme des Entwicklerteams von Daedalic Entertainment bezüglich der im Video angesprochenen Punkte angefragt. Wir veröffentlichen sie hier in Gänze:

»Wir alle von Daedalic sind sehr betrübt darüber, dass der ohne Frage hinter den Erwartungen zurückbleibende Release von Gollum nun zum Anlass genommen wird, die 17 Jahre zurückgehende Unternehmenshistorie von Daedalic mit ihren zahlreichen Erfolgen und Auszeichnungen insgesamt in Frage zu stellen.

Berechtigte Kritik nehmen wir gern an und werden beispielsweise die Vorwürfe in Bezug auf die interne Kommunikation zwischen Geschäftsleitung und Team einer genauen Aufarbeitung unterziehen. Die aktuellen qualitativen Probleme von Gollum jedoch mit allgemeinen, teilweise viele Jahre zurückliegenden Vorkommnissen in Verbindung bringen zu wollen, ist indes viel zu einfach gedacht.

Bestes Beispiel sind die Schwierigkeiten, die wohl fast alle Unternehmen bei Einführung des Mindestlohns Anfang des Jahres 2015 hatten. Daedalic hat seinerzeit versucht, eine faire Lösung für jeden Einzelfall zu finden und möglichst viele Mitarbeiter*innen im Unternehmen zu halten. Das war vor mehr als 8,5 Jahren, als Gollum noch lange nicht geplant war – dennoch wird daraus nun einer der Gründe des Misserfolges des Spiels konstruiert (Titel GameTwo: ›Warum Gollum scheitern musste‹).

Daedalic ist es stets wichtig, transparent und offen auf Fragen einzugehen. Deshalb übermitteln wir anliegend ebenso transparent die Originalfragen von GameTwo samt unserer diesbezüglichen Antworten, die leider unserer Meinung nach bislang nicht hinreichend berücksichtigt wurden.«

Der gegen Ende erwähnte Fragenkatalog liegt GameStar vor. Da dieser jedoch sehr umfangreich ist, behalten wir es uns vor, ihn nach genauem Studium in einem separaten Artikel zu veröffentlichen.

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